Herr Sinn, wie beurteilen Sie denn das große Rentenpaket von Arbeitsministerin Andrea Nahles?
Hans-Werner Sinn: Die Mütterrente
kann man in einem Land mit
einer der niedrigsten Geburtenraten
nachvollziehen. Die abschlagsfreie
Rente mit 63 allerdings ist ein Fehler,
der uns noch teuer zu stehen
kommen wird. Sie verschärft nur die sich abzeichnende demografische
Krise. Dass sie allerdings auf Dauer
so bleibt, wie sie jetzt beschlossen
wurde, kann ich mir nicht vorstellen.
Dazu fehlt schlicht das Geld,
wenn in ein paar Jahren die Babyboomer
ins Rentenalter kommen.
Was halten Sie vom Beschluss,
einen
Mindestlohn von 8,50 Euro
einzuführen?
Er ist die Rückabwicklung der erfolgreichen
Agenda 2010. Deren Kern
war es ja, den Lohn zu senken, für
den es sich zu arbeiten lohnt. Dazu
wurden die Sozialleistungen für 2,2
Millionen Menschen gesenkt und Zuverdienstmöglichkeiten
geschaffen.
Das Ergebnis: niedrigere Löhne,
keine Preissteigerungen - die Zutaten
für die niedrige Arbeitslosigkeit
und die konjunkturelle Stärke, die wir seit einigen Jahren erleben. Die
neue Regierung verfrühstückt das.
Ich finde dies verantwortungslos.
Viele aufstrebende Wirtschaften wie die Türkei, Brasilien und Südafrika haben große Probleme. Wie gefährlich ist die Krise der Schwellenländer für die deutsche Konjunktur?
Sehr gefährlich. Diese Länder haben
sich enorm verschuldet, und nun
zieht sich das Kapital zurück, was zu
einer erheblichen Destabilisierung
führen kann. Auch Russland ist wegen
der Krise in der Ukraine von Kapitalflucht
betroffen. Die Krise ist
ernst und kann auch die deutschen
Exporte treffen.
Wenn man sich die Reden von Politikern
anhört und die Entwicklung
der Kapitalmärkte ansieht, wo die
Staatsanleihen der Krisenstaaten
steigen und steigen, könnte man
fast glauben, die Eurokrise sei vorbei.
Ist das so?
Das kommt darauf an, was man unter
der Eurokrise versteht. Die Angst
der Investoren vor einer Pleite der
Krisenstaaten in Südeuropa ist weitgehend
verflogen. Doch die wirtschaftliche
Situation in diesen Ländern
ist weiterhin verheerend.
Wie geht die Eurokrise Ihrer
Meinung
nach aus?
Wenn die Zinsen weiterhin künstlich
niedrig gehalten werden, verlieren
sie ihre Lenkungsfunktion - insbesondere
in den Krisenstaaten. Deren
Schulden werden weiter wachsen.
Und am Ende gibt es nur zwei Wege:
Das Ganze endet mit einem großen
Knall und dem Auseinanderbrechen
der Eurozone, weil die Schulden
nicht mehr beherrschbar sind. Oder
Länder wie Deutschland stimmen einer
Transferunion zu, bei der sie
dauerhaft Teile ihrer Einkommen
und Vermögen auf andere Länder
übertragen.
Spielt die Bundesregierung solche
Szenarien wie den Zusammenbruch
der Eurozone durch?
Es wäre fahrlässig, wenn sie es nicht
täte.
Trotz aller Probleme ist der Euro stark. Zu stark ?
Für die Krisenländer ja. Für Deutschland
ist der Eurokurs zu niedrig. Wir
generieren mit ihm einen gigantischen
Leistungsbilanzüberschuss
von über sieben Prozent des Bruttoinlandsprodukts,
den wir nicht sinnvoll
investieren können. Wir investieren
in Rettungsgelder für Krisenstaaten
und Anleihen, die vielleicht
nie bedient werden.
Aber die Arbeitslosigkeit ist trotz
Eurokrise in Deutschland auf
einem Mehrjahrestief.
Die Arbeitslosigkeit ist nicht trotz
der Krise so niedrig, sondern wegen
ihr. Als die Angst um sich griff, floss
das Kapital nach Deutschland, viel
davon in Immobilien. Der Bauboom
und seine positiven Effekte schufen
die Arbeitsplätze. Insofern sind natürlich
alle Stützungsmaßnahmen,
um das Kapital wieder in die Krisenländer
zu locken, schlecht für die
deutsche Konjunktur.
Andere Staaten der Eurozone
fordern,
dass wir den Konsum ankurbeln,
um so die Ungleichgewichte
in Europa abzubauen.
Wie stehen die Chancen hierfür?
Wenn wir Rettungskredite geben, öffentliche
Schutzsysteme aufbauen
und dann irgendwann noch echte
Transfers zahlen, dann wird das den
Konsum nicht stärken. Man kann
das Geld immer nur einmal ausgeben.
Wenn man sein Geld ans Ausland
verleihen oder verschenken
muss, statt es selbst zu konsumieren
oder für Investitionen zu verwenden,
dann erzeugt man hohe Exporte,
doch dämpft man die Binnennachfrage.
Das Sparkapital will ja eigentlich
nicht mehr aus Deutschland
heraus. Wenn man aufhören würde,
es als öffentlichen oder öffentlich geschützten
privaten Kredit in andere
Länder zu schicken, dann würde
Deutschland boomen, und die außenwirtschaftlichen
Ungleichgewichte
verschwänden von allein.
Als Hauptgrund für die wirtschaftliche Misere in Spanien, Italien und Co führen Sie die fehlende Wettbewerbsfähigkeit an. Nun sinken seit einigen Monaten die Leistungsbilanzdefizite der Krisenländer - das Verhältnis von Exporten zu Importen wird also besser. Ist das kein Zeichen der Besserung?
Nein. Der Saldo hat sich zwar verbessert,
aber nicht durch steigende
Wettbewerbsfähigkeit und irgendwelche
Sonderimpulse bei den Exporten,
sondern weil die Nachfrage
wegen der hohen Arbeitslosigkeit
einbrach und weniger importiert
wurde. Es findet kaum eine strukturelle
Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit
statt. Das ist eine
krasse Fehlinterpretation.
Gibt es gar keine Fortschritte?
Natürlich hat sich etwas bewegt. Die
Preise sind in Spanien in den vergangenen
fünf Jahren real um fünf Prozent
gefallen. Aber Spanien bräuchte
eine Abwertung von 30 Prozent, um
wieder wettbewerbsfähig zu werden,
während Deutschland zugleich
um 20 Prozent aufwertet. Das ist
noch ein ganz langer Weg.
Zwei bis drei Jahrzehnte?
Na ja, das ist sehr lange. Aber lange
wird es dauern. Das ist immer so:
Preise steigen in guten Zeiten
schnell, fallen aber in schlechten
sehr langsam. Besonders gilt das für
den Lohn, den Preis der Arbeit.
Sie zeichnen ein düsteres Bild für den Euro. Warum funktioniert die Gemeinschaftswährung nicht?
Das hat viel mit dem System zu tun,
das wir geschaffen haben. Der Zugang
zur Druckerpresse ist für die
einzelnen Notenbanken zu leicht
verfügbar. Das hat den Investoren
zu viel Sicherheit gegeben und die
exzessiven
Kreditflüsse hervorgebracht,
die die Südländer in die Inflation
trieben und ihrer Wettbewerbsfähigkeit
beraubten. Und als
die Blase platzte, wurde so enorm
viel gedruckt, dass nicht einmal die
Selbsthaftung bei den ELA-Krediten
(kurzfristige Notkredite für Banken;
Anm. d. Red.) verhindern konnte,
dass die Steuerzahler der noch gesunden
Länder an die Angel genommen
wurden. Die Parlamente konnten
sich anschließend nur in das
Unvermeidliche
fügen und mit
fiskalischen
Anschlusskrediten die
EZB freikaufen.
Waren wir Deutschen zu blauäugig,
als wir auf die Verträge für
die Währungsunion vertrauten?
Sicher. Es waren Konzessionen:
Macht das Portemonnaie auf, wir
versprechen, nicht zu viel herauszunehmen.
Aber als das Portemonnaie
erst mal auf war, fiel der zweite Teil
der Abmachung unter den Tisch.
Symptomatisch dafür ist der Stabilitäts-
und Wachstumspakt. In etwa
150 Fällen wurde seine Drei-Prozent-
Grenze überschritten, aber nur bei
einem Drittel der Fälle war es erlaubt.
Aber die Staatsschulden sind
ja nur ein Teil des Geschehens. Das
Hauptproblem liegt aber nicht hier,
sondern bei den Schulden über das
EZB-System.
Auch Deutschland hat die Maastricht-
Kriterien mehrfach verletzt.
Stimmt. Und wenn man sich selbst nicht an die Regeln hält, ist es schwer, deren Einhaltung von anderen einzufordern.
Vita: Experte und Mahner
Hans-Werner Sinn, Leiter des Ifo-Instituts, ist einer der renommiertesten Ökonomen Deutschlands. Der Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft an der Ludwig- Maximilians-Universität München arbeitete als Gastprofessor unter anderem in Princeton und Stanford. In der Eurokrise wies der gebürtige Westfale als Erster auf die Target-S alden und die Risiken für die Bundesbank hin. Der 66-Jährige war Gutachter für das Bundesverfassungsgericht beim Prozess um den Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB. Sinn hat drei erwachsene Kinder und lebt mit seiner Frau bei München.