von Hans Werner-Sinn, ifo Institut
Es gibt politische Wahrheiten und wirkliche Wahrheiten. Politische Wahrheiten entstehen, indem hinreichend viele Politiker sie einander erzählen, bis sie selbst, die Medien und die Menschen sie glauben. Wirkliche Wahrheiten folgen aus ökonomischen und naturwissenschaftlichen Gesetzen sowie statistischen Fakten. Ich werde als Wirtschaftswissenschaftler von den Bürgern dafür bezahlt, dass ich diese Wahrheiten zu finden versuche. Die Vorstellung von der Existenz einer wirklichen Wahrheit, die sich nicht an dem orientiert, was in der Mediendemokratie mehrheitsfähig ist, mag manch einer für naiv halten. Aber davon gehen alle Wissenschaften aus.
Die Existenz wirtschaftswissenschaftlicher Wahrheiten wird häufig in Zweifel gezogen, weil sich die Wirtschaftswissenschaft mit der Politik beschäftigt und Antworten gibt, die mit Ideologien und Werturteilen konkurrieren. Es gehört aber zum Selbstverständnis eines Volkswirts, dass er sich davon, soweit es geht, freimacht. Dass andersdenkende Politiker und Journalisten ihn trotzdem ideologisch verorten wollen, ist sein Schicksal. Das muss er hinnehmen, weil es sich nicht ändern lässt. Seit es unser Fach gibt, steht es im Konflikt zwischen dem sogenannten Primat der Politik und den Gesetzen der Ökonomie. Nicht nur der Fall des Eisernen Vorhangs hat mich davon überzeugt, dass die Gesetze der Ökonomie sich letztlich durchsetzen werden. Mittel- bis langfristig ist keine Wirtschaftspolitik erfolgreich, die diesen Gesetzen widerspricht. Sie scheitert - auch wenn uns Politiker gern anderes glauben machen möchten, um wirtschaftliche Probleme in spätere Wahlperioden zu verschieben. So, wie das seit Jahrzehnten bei der Rente geschieht.
In Diktaturen kann es viele Jahrzehnte dauern, bis sich die Wahrheit durchsetzt, in Demokratien viele Jahre. Politiker, die die ökonomischen Gesetze missachten, mögen ein oder zwei Legislaturperioden damit durchkommen, doch irgendwann kommt es an den Tag, dass etwas falsch läuft. Dann gelangen neue Politiker an die Macht und betreiben die Wende oder die Wende von der Wende.
Es gibt Parteien, die sich dem Druck der Wähler nicht beugen, weil die Altvorderen, die ursprünglich die Fehlentscheidungen trafen, im Hintergrund aktiv bleiben und den Kurswechsel verhindern. Solche Parteien gehen auch schon mal unter und werden durch andere ersetzt.
Auf Seite 2: Auch beim Euro zeigen sich die ökonomischen Gesetze unerbittlich
Auch beim Euro zeigen sich die ökonomischen Gesetze unerbittlich. Kurzfristig - nach seiner Einführung - sah alles bestens aus. Nun zeigt sich, dass er Europa in eine ökonomische Zwickmühle gebracht hat, aus der es keinen leichten Ausweg mehr gibt. Exzessive Kreditflüsse haben die Länder Südeuropas in die Inflation getrieben und ihrer Wettbewerbsfähigkeit beraubt.
Ohne Euro-Austritt kämen diese Länder nur dann aus ihrer Misere wieder heraus, wenn sie eine lange Phase der Stagnation und Deflation akzeptierten, die die Inflation wieder neutralisiert. Während einer solchen Phase herrscht indes eine Massenarbeitslosigkeit, an der die Gesellschaft zerbrechen kann. Diese Gefahr sollte man nicht unterschätzen. Wird aber versucht, die Massenarbeitslosigkeit durch Nachfrage stimulierende Maßnahmen abzumildern - etwa durch schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme -, entsteht ein chronisches Siechtum, weil die Deflation nicht stattfindet und sich die Wettbewerbsfahigkeit nicht verbessert.
Genau das zeichnet sich ab. Die Länder Südeuropas sind im Euro gefangen, weil der Austritt als politisches Unglück deklariert wird und sie im Euro nur dann wieder wettbewerbsfähig werden, wenn sie zuvor eine lang währende Massenarbeitslosigkeit erdulden, die weit über das hinausgeht, was man von Tiefpunkten in konjunkturellen Zyklen kennt. Das ist eine fast ausweglose Situation. Die Deutschen sind nun in eine Situation geraten, in der man von uns fordert, durch immer mehr öffentlichen Kredit und immer mehr Kreditgarantien über die Europäische Zentralbank und die Rettungsfonds die zerstörte Wettbewerbsfähigkeit der südlichen Länder zu kompensieren. Uns scheint es zwar gut zu gehen, weil die Kapitalexporte aus Deutschland heraus den Euro-Kurs niedrig und Krisenländer liquide halten, sodass unser Güterexport gut läuft. Aber der Schein trügt insofern, als es uns letztlich nicht gelungen ist, für die Exporte ein solides und ertragreiches Auslandsvermögen aufzubauen.
Auf Seite 3: Uns geht es nur scheinbar gut
Zu Hause haben wir nicht mehr genug investiert, und die Auslandsinvestitionen erwiesen sich, soweit sie finanzieller Art waren und über unsere Banken und Lebensversicherungen flossen, als Flop. Um es auf eine Kurzformel zu bringen: Wir haben genug Arbeit, doch das Vermögen geht verloren. Uns geht es also nur scheinbar gut. Das wird in den nächsten zwei Jahrzehnten jedermann klar werden, nämlich dann, wenn die Babyboomer, die jetzt so sind, ins Rentenalter kommen und von ihren mittlerweile erwachsenen Kindern ernährt werden wollen, von denen es nur wenige gibt, und sich das vermeintliche Auslandsvermögen unserer Banken und Versicherungen in Luft aufgelöst hat.
Doch damit nicht genug: Auf der zwischenstaatlichen Ebene hat die Krise Spannungen hervorgebracht, wie wir sie in Europa - abgesehen vom Ost-West-Konflikt - seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erlebt haben. Und das paradoxerweise als Ergebnis eines politischen Friedensprojektes! Helmut Kohl hat den Euro nicht ökonomisch begründet, sondern als europäisches Friedensprojekt. Er war kein Ökonom, und er hörte auch wenig auf ökonomische Argumente. Die Folgen erleiden wir heute und noch stärker in der Zukunft. Gerade beim Euro sehen wir also: Die Politik kann nicht auf Dauer gegen die ökonomischen Gesetze funktionieren. Die Geschichte hat gezeigt, dass sich die ökonomischen Gesetze letztlich durchsetzen - es sei denn, es kommt zu politischen Megaereignissen, wie es zum Beispiel Kriege sind. Aber ohne solche Eruptionen setzen sich die ökonomischen Gesetzmäßigkeiten durch. Das gilt auch für den Euro und die Eurorettungspolitik. Je länger diese Politik versucht, die Gesetze der Ökonomie zu ignorieren - und das tut sie derzeit immer noch -, desto mehr müssen künftige Generationen dafür bezahlen.
Quelle: ifo Institut