Ein Bild sagt mehr als tausend Worte: Auf dem Treffen der 20 weltweit größten Wirtschaftsnationen im australischen Brisbane wird der russische Präsident Putin wie ein Aussätziger behandelt. Und bei den Mahlzeiten hieß das Motto "Wladimir sitzt allein am Tisch". Das war ihm schließlich zu viel, er verließ den Ort der Unbehaglichkeit und machte aus dem G20- einen G19-Gipfel.
Sind solche plakativen Darbietungen die Errungenschaften der Diplomatie im 21. Jahrhundert. Glaubt irgendjemand, dass man damit einen neuen Kalten Krieg zwischen Ost und West verhindert? Mich irritiert ohnehin die einseitige Darstellung des "bösen Iwan" in den Medien, selbst bei Blättern, die früher für ausgewogene, wenn auch kritische Berichterstattung bekannt waren.
Denn dieser neue Kalte Krieg darf nicht nur ab Anfang 2014 - seit der Ukraine-Krise - betrachtet werden. Seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 ist der Westen, verkörpert durch die USA und die Europäische Union, Russland mit massiver Nato-Präsenz auf den Bärenpelz gerückt. Bär ist ein gutes Stichwort: Der Bär ist das Symboltier Russlands. Aus Tierfilmen weiß man, dass ein Bär vor allem dann kein Teddybär ist, wenn man ihm zu nah auf die Pelle rückt. Indem man der Ukraine das westliche Militärbündnis schmackhaft machte, hat der Westen seinen Fuß aber sogar in die Bärenhöhle gesetzt. Das war Putin zu viel, er zog die Reißleine.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Das, was Putin in der Ostukraine mit seinen Erfüllungsgehilfen treibt, ist gelinde gesagt eine Schweinerei. Aber heuchlerisch mit zweierlei Maß messen, sollte niemand. Die Weltmacht, die ohne außenpolitische Sünde ist, werfe den ersten Stein. Keine Sorge, niemand muss sich vor einem Steinschlag wegducken.
Auf Seite 2: Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte
Wenn zwei sich streiten, freut sich der Dritte
Mit zunehmender Isolation Russlands ist das diplomatische Kind in den Brunnen gefallen. Soll sich Putin jetzt reumütig zurückziehen? Mit diesem eklatanten Gesichtsverlust könnte er sich in Russland gleich den politischen Strick nehmen. Das nährt die Gefahr, dass der Egomane Putin jetzt die wählerwirksame Flucht nach vorne antritt und die europäische Sicherheitsstatik zusätzlich ins Wanken gerät.
Der Profiteur dieses Konfliktes sind die USA, die jetzt die Gelegenheit nutzen, ihren Status als moralisch einwandfreie Weltmacht zu festigen. Mit erkalteter Zuneigung zwischen Europa und speziell Deutschland zu Russland nimmt Uncle Sam die der transatlantischen Beziehung zuletzt abtrünnigen europäischen Schäfchen doch wieder gerne unter seine wärmenden Fittiche.
Auf Seite 3: Deutschland hat eine verdammt schwierige Rolle
Deutschland hat eine verdammt schwierige Rolle
Die deutsche Politik befindet sich in einem Dilemma. Auf der einen Seite will man das Verhältnis zum großen Bruder Amerika nicht gefährden. Auf der anderen Seite will man jedoch auch die EU- bzw. nationalen Interessen wahren. Deutschland wäre mit dem Klammerbeutel gepudert, wenn es im östlichen Vorgarten nicht Deeskalation anstrebt. Leider spricht die EU nicht mit einer, sondern mit gespaltener Zunge. Als nibelungentreuer Verbündeter sind die Großen Briten ein guter Erfüllungsgehilfe zur Durchsetzung amerikanischer Interessen. Ohnehin fällt die die Insel in letzter Zeit eher als Wehrkraftzersetzer der EU auf. Mit Blick auf die Verhandlungen über das Freihandelsabkommen mit den USA muss einem da Angst und Bange werden, dass die EU unter die Räder kommt.
Durch den Ost-West-Konflikt haben Großbritannien und die USA wirtschaftlich übrigens wenig zu verlieren. Dass bremst naturgemäß deren diplomatische Rücksichtnahme. Und sollte irgendwann die Energieversorgung aus Russland in Gefahr sein, wird sich Amerika freuen, seine Überproduktion an gefracktem Öl und Gas an seine bedürftigen Freunde in Europa zu verkaufen. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
Dagegen ist kein westliches Land auch nur annähernd so stark mit Russland wirtschaftlich verbandelt wie Deutschland. Kein Wunder, denn dieses industriell noch extrem rückständige Land schreit geradezu danach, von deutschem Industrie-Know How beglückt zu werden. Ähnlich wie der Tümpel für Frösche ist Russland ein wirtschaftliches Paradies für deutsche Unternehmen. Durch die Sanktionen zeigt das Paradies aktuell jedoch höllische Züge. Ich weiß, dass unsere Außenhandelskonkurrenten diesen Umstand mit dicken Tränen bedauern, mit Krokodilstränen.
Diese "Des einen Leid, des anderen Freud"-Argumente schlagen sich aktuell u.a. in einer zum Vorjahr schwächeren Entwicklung der Stimmung im deutschen Verarbeitenden Gewerbe laut ifo Geschäftserwartungen nieder. Dazu passend zeigen deutsche, typischerweise export- und konjunktursensible Aktien relative Schwäche gegenüber Aktien der Eurozone.
Und auch im Vergleich zu US-Aktien zeigen deutsche Titel Schlagseite: Der vor allem Deutschland betreffende Ost-West-Konflikt behindert deutsche Aktien seit Frühjahr ebenso einseitig wie zur Zeit der hausgemachten Euro-Staatsschuldenkrise zwischen 2011 und 2012.
Auf Seite 4: Es ist auch legitim, deutsche Interessen zu verfolgen
Es ist auch legitim, deutsche Interessen zu verfolgen
Daher ist es gut, dass die Bundeskanzlerin und ihr Bundesaußenminister trotz ihrer öffentlich deutlichen Worte dennoch hinter vorgehaltener Hand den Gesprächsfaden mit Putin zur Wahrung europäischer Sicherheitsbedürfnisse, aber zur Verfolgung deutscher Wirtschaftsinteressen aufrecht erhält. Sie redet mütterlich mit Väterchen Russland. Der Physikerin Merkel wird es nicht schwer fallen, auch außen- und wirtschaftspolitisch in Ursache- und Wirkungszusammenhängen zu denken. Gegen Widerstände in den USA und selbst in Europa muss sie mit einer pragmatischen Leben und leben lassen-Strategie versuchen, die diplomatische Balance mit Russland unter Gesichtswahrung auf beiden Seiten hinzubekommen. Es wird wohl die größte Aufgabe in ihrer Amtszeit sein. Dabei kommt ihr zugute, dass Deutschland und die deutsche Politik in Russland historisch hohen Respekt genießen. Auf dieser Klaviatur soll Frau Merkel virtuos spielen. Gelingt ihr dies, sei ihr der Friedensnobelpreis gegönnt.
Dieser Ost-West-Konflikt ist nicht morgen, übermorgen oder überübermorgen gelöst. Gelänge es aber speziell der deutschen Außenpolitik zumindest langfristig eine Lösung hinzubekommen, wäre damit der deutschen Wirtschaft und dem deutschen Aktienmarkt morgen, übermorgen und überübermorgen sehr geholfen. Auch andere verfolgen unbeirrt ihre Wirtschaftsinteressen. Ein bisschen weniger eigenschädliches deutsches Gutmenschentum schadet nicht.
Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank.