Das asiatische Schwellenland und gleichzeitig eine der größten Volkswirtschaften der Welt hat die Corona-Krise im internationalen Vergleich relativ gut überstanden - und wächst 2021 voraussichtlich rasant. Von Michael Braun Alexander

Am Connaught Place, einem teuren Geschäftsviertel im Zentrum von Delhi, ist der März frühlingshaft. Das Leben pulsiert bei mild-sonnigem Wetter wieder wie einst, in den Zeiten vor Corona. Hotels, Läden, Märkte, Fitnessstudios, Restaurants und die U-Bahn der Metropole mit mehr als 25 Millionen Einwohnern sind geöffnet und geschäftig. Am frühen Abend drängen sich junge Leute in einer McDonald’s-Filiale am Platz. An einer Fassade erklärt ein Plakat, wie AHA (Abstand, Hygiene, Alltagsmaske) in Indien geht. SMS steht auf dem Plakat in Englisch: Sanitization, Mask, Social Distance.

Die Maskenmoral ist in diesem Stadtteil von Delhi hoch. Ungefähr 80 Prozent der Menschen tragen auf der Straße wie vorgeschrieben Alltags- oder medizinische Masken. In Geschäften und Bussen liegt der Anteil höher, auch weil im Hauptstadtterritorium andernfalls 2000 Rupien fällig werden, etwa 23 Euro, was in Indien - selbst in der reichen Kapitale - ein empfindlich hohes Bußgeld ist. Im Bundesstaat Maharashtra mit der Westküstenmetropole Mumbai sind es beispielsweise nur 200 Rupien, ein Zehntel.

Das Corona-Infektionsgeschehen ist in Indien aktuell weiterhin erheblich, im internationalen Vergleich allerdings übersichtlich. Per Mitte März hatte das Land insgesamt 11,4 Millionen positive Covid-Tests gezählt - bei einer Gesamtbevölkerung von annähernd 1,4 Milliarden, also Deutschland mal 17 oder EU mal drei. Zuletzt kamen täglich ungefähr 30 000 neue positive Tests hinzu, wobei Maharashtra mit einem Anteil von etwa 60 Prozent den Schwerpunkt bildet.

Mehr Tote durch Luftverschmutzung

100 bis 200 Menschen sterben aktuell landesweit pro Tag an oder mit Corona; etwa 400 Opfer fordert hingegen der Straßenverkehr täglich - und die extreme Luftverschmutzung noch erheblich mehr. In Delhi verstarben im Februar und März im statistischen Mittel zwei Patienten je Kalendertag an oder mit Covid. Allein in der Hauptstadt gibt es mehrere Tausend freie, für Covid-Patienten reservierte Betten. Studien deuten zudem darauf hin, dass in einzelnen urbanen Großräumen und Landesteilen eine Herdenimmunität auf natürlichem Weg erreicht worden sein könnte - also per Infektion. So wies eine Studie im Großraum Delhi jüngst Corona-Antikörper bei gut 56 Prozent der 28 000 Teilnehmer nach. Bislang hat Indien mehr als 30 Millionen Impfdosen verabreicht, allein am 15. März, also an einem einzigen Tag, drei Millionen.

Indien hat sich somit weit besser geschlagen als der größte Teil der westlichen Welt. Sicher: Börsennotierte Unternehmen wie Biontech und Curevac haben mit der Entwicklung eigener Impfstoffe Großes geleistet. Das haben die indischen Unternehmen Bharat Biotech und Serum Institute of India (SII) allerdings auch. SII in Pune, ein Privatunternehmen der Poonawalla-Familie, war schon vor Corona der nach Volumen führende Impfstoffproduzent der Welt und ist in der aktuellen Pandemie wichtiger denn je. Per Mitte März hat Indien 75,4 Millionen Impfdosen im eigenen Land verteilt und 58,6 Millionen an 71 andere Staaten abgegeben, vor allem an Entwicklungs- und Schwellenländer - ganz im Gegensatz etwa zur EU und zu deren Exportverboten.

Wirtschaftlich erholt sich Indien. Doch die Branchen sind ungleich betroffen. So leiden insbesondere Hotellerie und Tourismus weiterhin massiv unter der Krise. Dieses Fiasko wird indes aufgewogen von der raschen Erholung anderswo. Indiens gigantische IT-Branche, die recht mühelos auf Homeoffice-Betrieb umschaltete und von der Krise aufgrund der beschleunigten Digitalisierung sogar profitierte, boomt längst wieder. Der Absatz von Konsumgütern liegt aktuell bei 93 Prozent des Vor-Pandemie-Niveaus, jener von Diesel, in Indien ein recht guter Indikator für die gesamtwirtschaftliche Aktivität, sieben Prozent darüber. Mercedes-Benz, der führende Luxuslimousinenanbieter in Indien, rechnet 2021 mit einem Absatzplus von mindestens 25 Prozent und berichtet von mehr Kundenanfragen als vor Corona. Der Aktienkurs des Autobauers Tata Motors wiederum hat sich seit dem Tiefstand im April 2020 verfünffacht.

Im Corona-Jahr 2020 dürfte die Wirtschaft nach vorläufigen Schätzungen um katastrophale sieben bis zehn Prozent eingebrochen sein. Für 2021 gehen Prognosen von einem ausgleichenden Plus zwischen acht und elf Prozent aus. Unter den großen Volkswirtschaften der Welt ein Topwert. Die Börse in Mumbai hat dies vorweggenommen. Der Leitindex Sensex der Bombay Stock Exchange überschritt vor wenigen Wochen erstmals die Marke von 50 000 Zählern, um die er seitdem recht lebhaft pendelt.

Differenziert durch die Krise

Die relativ gute Entwicklung liegt auch am pragmatischen Krisenmanagement. Den Glauben an eine landesweite Pauschalabschottung hat man verloren. Zu verheerend waren die wirtschaftlichen Nebenwirkungen, als das Land dies vor einem Jahr in Nachahmung anderer Nationen versucht hatte. Einzelne Städte und Distrikte - etwa die Millionenstädte Bhopal und Nagpur - greifen aktuell zwar hart mit Ausgangssperren durch, aber dies sind regional begrenzte Maßnahmen.

Regierungschef Narendra Modi geht differenziert vor. Neu-Delhi agiert dabei in mancher Hinsicht wirtschaftsfreundlicher als Berlin: In Indien schreiten Privatisierungen in der Krise zügiger denn je voran. Die nationale Fluggesellschaft Air India, seit Jahrzehnten marode, wird nun im zweiten Anlauf abgestoßen. Finanzministerin Nirmala Sitharaman will sich von einem beträchtlichen Teil des gigantischen staatlichen Beteiligungsportfolios trennen: von Flughäfen und Staatsbanken - aber nicht aus Finanznot. Die Devisenreserven der Reserve Bank of India (RBI) liegen aktuell bei gut 580 Milliarden Dollar.

Klar, Risiken bleiben. Insbesondere der spürbare Anstieg der positiven Covid-Befunde in den vergangenen Tagen, wenngleich ausgehend von niedrigem Niveau, macht Sorge. "Es ist noch nicht vorbei", fasst Anil Mathur, 35, ein aus Delhi stammender Uber-Fahrer am Connaught Place, die aktuelle Situation zusammen. "Es kommt wieder, aber nicht wie vorigen Sommer." Natürlich würden er und seine Eltern sich impfen lassen, sobald sie an der Reihe seien. Aber "Angst habe ich nicht". Schon vor mehr als hundert Jahren schrieb Mohandas Mahatma Gandhi, dass eine Stärke der indischen Gesellschaft darin liege, "Schocks zu überleben". Dies scheint sich ein weiteres Mal zu offenbaren.

 


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