Das Land hat sich erkältet. Da ist zum einen das ominöse Winterwetter in der Ganges-Ebene, die den Subkontinent von West nach Ost durchzieht. Zu Neujahr lagen die Temperaturen in der 28-Millionen-Metropole Delhi nachts bei zwei Grad, der tiefste Stand seit 1901. Viele Menschen in der Hauptstadt und im Umland, wo die Häuser meist keine Heizung haben, litten unter der Kälte.

Massiv abgekühlt hat sich in der Repu­blik Indien zum anderen auch die Konjunktur. Die nach kaufkraftparitätischer Rechnung inzwischen drittgrößte Volkswirtschaft der Welt ist binnen weniger Monate ganz unerwartet in eine Krise gerutscht. Offiziell ist das Wachstum zwar noch intakt  - 2019 lag es laut Internationalem Währungsfonds bei gut sechs Prozent -, doch wenn man "Flüsterzahlen" glaubt, könnten es aktuell nur etwa 4,5 Prozent sein. Das mag aus europäischer Sicht nach dynamischem Aufschwung klingen. Für Indien aber, wo die Bevölkerung täglich um mehr als 40 000 Menschen wächst, ist das zu wenig. Die Vier vor dem Komma, in anderen G-20-Staaten ein Boom, bedeutet in Indien so viel wie Intensivstation.

Unmut wegen Einbürgerungsgesetz


Der plötzliche Abschwung hat wirtschaftliche wie auch politische Facetten. Im Dezember verabschiedete das indische Parlament ein neues Einbürgerungsgesetz, den "Citizenship Amendment Act" (CAA), das die Gemüter in Teilen der Gesellschaft erhitzte. Auf den ersten Blick wirkt das Gesetz positiv, geradezu liberal, denn es vereinfacht die Einbürgerung von Migranten und Flüchtlingen aus Indiens Nachbarländern Bangladesch, Pakistan und Afghanistan, deren Zahl in die Millionen geht. Der CAA ermöglicht all jenen, die vor 2015 nach Indien gekommen sind, indische Staatsbürger zu werden - aber nur, wenn sie Buddhisten, Christen, Hindus, Jains, Sikhs oder Parsen sind. Muslimischen Migranten ist die Einbürgerung verwehrt.

Insofern steht der CAA nicht im Einklang mit einem Leitmotiv der indischen Verfassung, die Staat und Religion strikt trennt und alle Glaubensgemeinschaften als gleichrangig betrachtet. Ob das von Ministerpräsident Narendra Modi und seinem Innenminister Amit Shah durchgebrachte Gesetz vor dem Obersten Gericht Indiens Bestand haben wird, ist offen. Für viele der ungefähr 200 Millionen Inder muslimischen Glaubens ist es aber schon jetzt ein Schlag ins Gesicht. Es kam zu massiven Protesten im Nordosten und in vielen Großstädten, bei denen mehr als 20 Menschen starben. Land und Gesellschaft sind in Aufruhr.

Misere im Banken- und Telekomsektor


Zugleich befinden sich mehrere indische Wirtschaftszweige im Krisenmodus. Der Finanzsektor ist seit Jahren damit beschäftigt, faule Kredite abzuarbeiten und nach und nach aus den Bilanzen zu tilgen. Dies betrifft vor allem staatlich kontrollierte Banken, von denen viele zugleich börsennotiert sind, während private Finanzinstitute wie HDFC Bank oder Kotak Mahindra Bank insgesamt eine deutlich solidere Kreditpolitik betrieben haben. Viele bilanziell angeschlagene Banken halten sich folglich mit der Vergabe neuer Kredite zurück, was Investitionen und Konsum bremst. Der Pkw-Absatz in Indien brach Schätzungen zufolge zuletzt um 13 Prozent gegenüber dem Vorjahr ein - der stärkste Rückgang in diesem Jahrtausend.

Noch dramatischer ist die Lage im Tele­komsektor, im Gefolge der auch in Indien allgegenwärtigen IT-Revolution eigentlich eine Boombranche. Im September 2016 war Jio an den Start gegangen, eine neu gegründete Telekomtochter von Reliance Industries (RIL), des heute wertvollsten Börsenunternehmens im Land. Anfangs wurde Jio, ein Ableger des Konzernimperiums von Multimilliardär Mukesh Ambani, belächelt. Zu Unrecht. Von den damals tätigen Telekomunternehmen - ein gutes Dutzend mit nennenswerter Größe - sind heute nach einer drastischen Marktbereinigung nur noch drei übrig. Neben RIL sind dies Vodafone Idea und Bharti Airtel.

Gut daran: Datenübertragung ist in Indien heute billiger als sonst irgendwo. Praktisch jeder nutzt ein Smartphone oder Handy. Weniger gut: Außer RIL schreibt die gesamte Branche Verluste, vor allem infolge eines erbitterten Preiskampfs. Und damit nicht genug: Am 24. Oktober 2019 erging ein Urteil des Obersten Gerichts, das die Berechnung der Lizenzabgaben von Firmen an den Staat neu regelt - rückwirkend ab 2003 plus Zinsen und Strafen und Zinsen auf die Strafen. Allein die Forderungen des Fiskus an Telekomunternehmen belaufen sich auf mehr als 18 Milliarden Euro, zahlbar bis 24. Januar 2020.

Vodafone Idea, zu 45 Prozent zur britischen Vodafone-Gruppe gehörend, schaffte Ende des Jahres folglich einen Rekord, nämlich mit umgerechnet mehr als sechs Milliarden Euro den größten Quartals­verlust in der indischen Wirtschafts­geschichte. Kumar Mangalam Birla, Chairman von Vodafone Idea, erklärte Anfang Dezember, sofern die Regierung nicht schleunigst eingreife, werde er den Laden dichtmachen.

Auch Airtel, zu etwa 40 Prozent von Singapore Telecom kontrolliert, traf der Bann des Fiskus. Reliance Jio wiederum entging dem richterlich verordneten Finanzmassaker: zu jung. Denkbar ist nun, dass das heutige Telekomoligopol mit drei großen privaten Anbietern zum Duopol schrumpft. Allerdings hat ­Vodafone Idea etwa 370 Millionen Kunden. Würde das Unternehmen aufgeben, wären die aufgeschmissen und die Regierung in Neu-Delhi hätte gleich zwei Probleme mehr: noch unzufriedenere Bürger und eine zusätzliche Schneise der Verwüstung in den Bilanzen der Banken. Airtel und Jio wiederum, die Überlebenden, würden deutlich Marktanteile gewinnen.

Vorzeigekonzern unter Beschuss


Ähnlich turbulent ist die Lage in der Luftfahrt. Bereits im April 2019 war Jet Airways, damals einer der größten Anbieter, in die Pleite geflogen. Nun könnte in Kürze die traditionsreiche Fluggesellschaft Air India folgen, die in den 1950er-Jahren von Ministerpräsident Jawaharlal Nehru verstaatlicht und seitdem ohne Rücksicht auf Verluste gemanagt wurde. Die Modi-Regierung versucht zwar seit Langem, die hoch verschuldete Staatsfirma loszuschlagen, allerdings unter absurden Auflagen und daher bislang erfolglos. Schließlich erlebt auch Indiens größtes Privatunternehmen, Tata Sons in Mumbai, Chaostage. Die Holding mit einem Gesamtumsatz von mehr als 100 Milliarden Euro umfasst über 100 Tochtergesellschaften, von denen viele - beispielsweise Tata Motors, Tata Steel und Tata Consultancy Services (TCS) - eigene Börsennotierungen haben. So ist TCS mit einer Marktkapitalisierung von umgerechnet gut 100 Milliarden Euro das zweitgrößte Börsenunternehmen Indiens. Unklar ist im Moment jedoch, wer eigentlich der ­legitime Chef des renommierten Konglomerats ist.

Bis 2012 wurde Tata Sons mehr als 20 Jahre von Ratan Tata geführt, einem Spross der gleichnamigen Parsendynastie. Zum Nachfolger des heute 82-jährigen Tata war Cyrus Mistry ernannt worden, dessen indisch-irische Familie der Tata- Gruppe seit Jahrzehnten verbunden ist und mehr als 18 Prozent der Anteile an Tata Sons hält. Allerdings war Chairman Mistry, heute 51, im Oktober 2016 nach einem Zerwürfnis mit Ratan Tata kurzfristig seiner Pflichten entbunden worden.

Durcheinander in der Chefetage


Am 18. Dezember 2019 erging nun ein Gerichtsurteil, wonach Mistrys Rauswurf "illegal" war und er im Prinzip immer noch Tata-Chef ist, obgleich er das gar nicht sein will und dort längst Natarajan Chandrasekaran als Chairman wirkt - übrigens ebenfalls, so die Richter, "illegalerweise". Kurz: eine pikante, juristisch vielschichtige Gemengelage, die Indiens Vorzeigekonzern auf Monate beschäftigen dürfte. Die Tata-Gruppe hat inzwischen das Oberste Gericht Indiens angerufen, um das Durcheinander in der Chefetage zu klären. Ausgang offen.

All dies ist ernüchternd, allerdings eher ein Zwischentief als ein fundamentaler Bruch des langfristigen wirtschaftlichen Aufstiegs Indiens. Die beiden Leitbörsen in Mumbai, Bombay Stock Exchange (BSE) und National Stock Exchange (NSE), zeigen sich von den Turbulenzen entsprechend relativ unbeeindruckt. Ihre Leitindizes, BSE Sensex und Nifty, notieren nahe der Allzeithochs. Dabei half, dass die Reserve Bank of India (RBI), Indiens Zentralbank, die Zinsen 2019 fünfmal senkte, um die Konjunktur wieder in Gang zu bringen.

Anleger in Deutschland können in die meisten indischen Börsenunternehmen nicht direkt investieren und nehmen in der Regel den Umweg über Indexfonds (ETFs) oder aktiv gemanagte Fonds. Einige Bluechips werden in Deutschland aber als ADR (American Depository Receipt) oder GDR (Global Depository Receipt) gehandelt. Unter diesen erscheinen aktuell insbesondere Firmen aus dem IT-Sektor günstig: Infosys, Wipro und das US-Unternehmen Cognizant, das in Indien 200 000 Beschäftigte hat. Der Kurs von RIL, seit 2014 eine Kauf­empfehlung von BÖRSE ONLINE, hat sich seitdem mehr als verdreifacht. Der Ambani-Konzern - ein Riese im Öl-, Gas- und Chemiegeschäft, Indiens größter Einzelhändler und nun auch noch Telekommarktführer - bleibt darüber hinaus ein geeignetes Stellvertreterinvestment für Indiens Gesamtwirtschaft. Langfristig orientierte Investoren können Kursrücksetzer zum Einstieg nutzen.