Die Corona-Pandemie ist in weiten Teilen des Subkontinents überstanden. Gerade Aktien aus dem IT- und Telekombereich bieten noch viel Wachstumspotenzial - und locken ausländische Investoren an. Von Michael Braun Alexander

Es schwang geradezu eine Spur Ernüchterung mit, als sich Anfang September zeigte, dass Indiens Volkswirtschaft zuletzt nur um 20,1 Prozent gewachsen war. Dies war zwar die höchste offiziell ermittelte Wachstumsrate aller Zeiten. Aber die Reserve Bank of India (RBI), die Zentralbank des Landes mit Hauptsitz in der Westküstenmetropole Mumbai, hatte in ihren vorangegangenen Schätzungen sogar einen um 0,3 Prozentpunkte höheren Wert aufgerufen. Zugegeben: eine Enttäuschung auf hohem, höchstem Niveau. Und selbstverständlich ist dabei zu berücksichtigen, dass der Wachstumswert vor allem wegen eines Basiseffekts derart spektakulär ausfallen konnte. Vor einem Jahr hatte ein landesweiter Lockdown Indiens Wirtschaft mit einem schauderhaften Minus von 24,4 Prozent schlicht zusammenbrechen lassen.

Es ist allerdings nicht die einzige imposante Zahl, die im aktuell langsam endenden Monsun, der Hauptregenzeit, für Aufsehen sorgt. Die Republik Indien, die größte Demokratie der Welt, bekommt die Covid-Pandemie zunehmend in den Griff. Allein am 17. September - nicht zufällig der 71. Geburtstag von Regierungschef Narendra Modi - verabreichte das Land 25 Millionen Impfdosen, fast alle aus heimischer Produktion. Bei diesem Tempo wäre rechnerisch ganz Spanien binnen zwei Tagen einmal durch. Kleinere EU-Länder wie Belgien oder Schweden wären binnen weniger Stunden fertig.

Entsprechend zeigt sich der wichtigste Aktienindex Indiens, der Sensex, seit Wochen in Rekordlaune. Am vergangenen Freitag überwand er erstmals die 60 000er-Marke. In den letzten zwölf Monaten stieg der Leitindex der Bombay Stock Exchange um knapp 60 Prozent, trotz des von März bis etwa Juli dieses Jahres katastrophalen Pandemiegeschehens mit Hunderttausenden Toten.

Telekommunikation und IT im Fokus

Vor allem die Branchen Telekommunikation und IT sind Triebkräfte des Wirtschaftsaufschwungs nach Corona - wobei Indien seit 2016, als der Mischkonzern Reliance Industries (RIL) mit der Tochter Jio den Telekommarkt aufrollte, eine Phase schöpferischer Zerstörung à la Joseph Schumpeter durchläuft. So steht aktuell Vodafone Idea (Vi), ein Joint Venture von Vodafone India und der Birla-Gruppe, vor der Pleite - ein Unternehmen, das vor drei Jahren mehr als 400 Millionen zahlende Kunden hatte (aktuell dürfte es "nur" noch etwa eine Viertelmilliarde sein). Den Schuldenberg von rund 30 Milliarden US-Dollar kann der Telekomriese nicht mehr stemmen, wobei der Großteil dieser Summe ausgerechnet der indischen Regierung geschuldet ist. Die hatte dem Unternehmen sowie Wettbewerber Bharti Airtel in der Vergangenheit drastische Abgaben auferlegt, die nicht nur ziemlich willkürlich ausfielen, sondern existenzgefährdend.

Intervention der Regierung in Delhi

Die von Modis Bharatiya Janata Party (BJP, Indische Volkspartei) geführte Bundesregierung in Neu-Delhi hat sich damit in eine pikante Gemengelage manövriert. Modi steht wirtschaftspolitisch für einen liberalen Kurs, für einen konsequenten Rückzug des Staatsapparats aus Unternehmen. Er privatisiert Flughäfen und die seit Menschengedenken rote Zahlen einfliegende Air India sowie viele staatlich kontrollierte Banken und andere Finanzdienstleister.

Doch bei Vi sieht Neu-Delhi sich nun zu interventionistischen Rettungsmaßnahmen gezwungen, um ein allzu chaotisches Aus des Telekomriesen zu verhindern. Aktuell stehen eine Staatsbeteiligung und die Rekapitalisierung im Raum, um sicherzustellen, dass es im indischen Telekommarkt auch künftig drei statt nur zwei starke Anbieter gibt, also der Wettbewerb funktioniert.

Doch egal, ob und in welcher Verfassung Vi überlebt: Sicher ist, dass die beiden Rivalen Airtel (mit Großaktionär Singapore Telecom) und Jio zu den Gewinnern gehören werden. Jios Mutterkonzern RIL ist das Firmenkonglomerat von Mukesh Ambani (64), das größte Börsenunternehmen Indiens mit einer Marktkapitalisierung von inzwischen 189 Milliarden Euro. Öl, Gas und Chemie sind das hoch profitable Stammgeschäft des aus dem westindischen Gujarat stammenden Konzerns. Dieser Geschäftsbereich, heute als O2C (oil-to-chemicals) bekannt, betreibt auch die größte Raffinerie der Welt in der Industrieregion Jamnagar. Seit Langem verhandelt RIL eine enge Partnerschaft mit Saudi Aramco, dem mit Abstand größten Ölkonzern der Welt, der einen 20-Prozent-Anteil übernehmen könnte, sofern man sich denn irgendwann einig werden sollte. Das würde es RIL erleichtern, wie geplant Milliarden in Solarparks und andere erneuerbare Energien zu stecken.

Bei Jio, heute mit ungefähr 430 Millionen Kunden Telekom-Marktführer in Indien, hat RIL bereits ein Netz aus Kooperationspartnern geknüpft, und zwar mit den schillerndsten Namen der amerikanischen IT-Welt, die vor allem das sich rasant entwickelnde "Ökosystem" mit E-Commerce-Diensten, Streaming und Finanzangeboten locken dürfte. Die erste Liga von Silicon Valley und Wall Street hat sich mittlerweile bei Jio Platforms eingekauft und milliardenschwere Aktienpakete übernommen, darunter Alphabet (Google), Facebook, Intel, der Finanzinvestor KKR und Qualcomm.

In Zusammenarbeit mit Google wird Jio in Kürze ein eigenes subventioniertes 4G-Smartphone auf den indischen Markt bringen, das JioPhone Next. Es soll vor allem für Indiens mehrere Hundert Millionen Haushalte zählende Mittelschicht erschwinglich sein, also deutlich billiger als iPhones von Apple oder die Smart- phones von Samsung. Die meisten Beobachter erwarten einen Einzelhandelspreis um 50 US-Dollar (43 Euro). Ob es tatsächlich so kommt, bleibt abzuwarten. Eigentlich sollte das neue JioPhone bereits im Juni auf den Markt kommen, dann im September, und aktuell ist von einer Markteinführung im November die Rede. Wie in anderen Branchen auch, mangelt es Jio an Chips, es fehlen Displays, es gibt logistische Engpässe und Verzögerungen ohne Ende. Am Ende könnte auch das mit Spannung erwartete Jio-Smartphone etwas teurer werden als ursprünglich kalkuliert und erhofft.

Höchste annualisierte Rendite

Daneben boomt Indiens gigantische IT-Branche - nicht zuletzt infolge der Pandemie, die mit dem globalen Trend zu Homeoffice und Onlinedienstleistungen aller Art gewissermaßen den Turbo zündete. Aktuell stammen drei der nach Marktkapitalisierung Top-12-Börsenfirmen in Indien aus dem IT-Sektor. Die größte und wichtigste, TCS, eine Tochter der Tata-Gruppe in Mumbai, ist zwar das zweitgrößte Börsenunternehmen in Indien, für deutsche Privatinvestoren allerdings nicht handelbar. Käuflich sind indes die international gehandelten Hinterlegungsscheine der Rivalen Infosys und Wipro. Cognizant wiederum ist eine aktuell günstig bewertete US-Aktiengesellschaft, die in Indien mehr als 200 000 Beschäftige zählt, gut zwei Drittel der gesamten Belegschaft.

Richtig ist, dass Indiens Börsen relativ teuer sind. Das marktbreite Kurs-Gewinn-Verhältnis für 2022 lag in der vergangenen Woche nach Angaben von Yardeni Research bei hohen 23,8. Chinas Vergleichswert betrug 13,4, Russlands nur spottbillige 6,2. Die hohe Bewertung in Mumbai mag einige Investoren abschrecken. Allerdings ist Indien dank des seit drei Jahrzehnten dynamischen Wirtschaftswachstums, stabilen (und demokratischen) politischen Verhältnissen, einer sehr jungen Bevölkerung und fabelhaften Zukunftsaussichten auch besonders attraktiv. In einer aktuellen Studie merkt die Deutsche Bank an, dass in den vergangenen 50 Jahren weltweit keine Börse eine höhere annualisierte Rendite erzielte als Indien. Die Top-Performance dürfte auf absehbare Zeit weitergehen.

 


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