Zu stark gebremst und dann viel zu spät wieder beschleunigt: Dass gerade die Autokonzerne und ihre Zulieferer im Corona-Jahr 2020 in Panik verfallen sind, hat auch die Lieferbeziehungen zu den Halbleiterherstellern wie Infineon kräftig durcheinandergewirbelt. Mit fatalen Folgen: Wegen der anhaltenden Engpässe bei Chiplieferungen an die Autobauer werden nach Schätzungen des Marktforschers IHS 2021 weltweit eine Million Fahrzeuge weniger gebaut.
Verstärkt wird das Dilemma durch den auf breiter Front ausgetragenen Handelskonflikt zwischen den USA und China. Der Streit hat nicht nur zu weiteren Engpässen in der Chipversorgung geführt. Sondern auch die Schwächen Europas im Technologiesektor noch offener zutage treten lassen.
Um hier gegenzusteuern, hat sich die EU in ihrem "Digitalen Kompass" bis 2030 ambitionierte Ziele gesetzt: Mindestens ein Fünftel der globalen Wertschöpfung der Chipbranche soll dann in Europa stattfinden. Derzeit sind es gerade mal vier Prozent. Geplant ist zudem eine eigenständige europäische Cloud-Infrastruktur ("Gaia X"), die eine vollständige Abdeckung der bevölkerten EU-Regionen mit dem Mobilfunkstandard 5G zum Ziel hat sowie die vollständige Digitalisierung der wichtigsten öffentlichen Dienstleistungen mit Anbindung an das Web.
Helmut Gassel ist im Vorstand von Europas größtem Halbleiterkonzern Infineon für Vertrieb, Unternehmensstrategie und Firmenübernahmen verantwortlich. Für den promovierten Physiker und Elektrotechniker sind die Lieferengpässe der Chipindustrie ebenso Tagesgeschäft wie die Herausforderung der europäischen Chipkonzerne durch die dominanten Branchenriesen aus den USA und Asien. Infineon jedenfalls hat mit zwei milliardenschweren Zukäufen im Silicon Valley, International Rectifier im Jahr 2015 und Cypress Semiconductor im Jahr 2020, gezeigt, wie die Europäer in der Branche auch global Akzente setzen können.
€uro am Sonntag: Herr Gassel, mehreren Industrien, insbesondere der Automobilindustrie, machen Lieferengpässe bei Halbleitern zu schaffen. Worin liegen die Ursachen?
Helmut Gassel: Da kommen mehrere Faktoren zusammen. Die Automobilindustrie erholt sich schneller, als nach dem Einbruch im vergangenen Frühjahr erwartet. Die Corona-Pandemie hat in vielen Bereichen zudem einen Digitalisierungsschub ausgelöst, der die allgemeine Nachfrage nach Halbleitern zusätzlich erhöht. Auch Chinas Wirtschaft läuft besser und benötigt entsprechend viele Mikrochips. Reaktionen auf den geopolitischen Konflikt Chinas mit den USA, im Speziellen bei Halbleitern, verschärfen die Situation zusätzlich. Kurzfristig lassen sich die Kapazitäten im Chipmarkt nicht deutlich erhöhen. Entsprechende Erweiterungen in der Produktion haben längere Vorlaufzeiten.
Ist der jetzt steigende Chipbedarf in der Automobilindustrie ein vorübergehendes Phänomen, bedingt durch Corona, oder ist er langfristig, ausgelöst durch den tiefergreifenden Wandel?
Es ist beides. Zum einen gibt es einen Nachholeffekt, zum anderen steigt der Bedarf an Halbleitern im Auto: Elektromobilität und Fahrerassistenzsysteme, bis hin zum autonomen Fahren, sind stabile Wachstumstreiber für unsere Industrie. Auch deshalb hat Infineon während der Pandemie Investitionspläne unverändert weiterverfolgt und Fertigungskapazitäten ausgebaut. Im österreichischen Villach bauen wir eine neue Fabrik für Leistungshalbleiter, die auch für Elektroantriebe benötigt werden. Wir sind hier weit fortgeschritten und ziehen den Produktionsstart vom vierten in das dritte Kalenderquartal vor.
Wie lange werden die Lieferengpässe die Autobranche noch belasten?
Das wird sicher noch einige Monate andauern. In der ersten Jahreshälfte rechnen wir derzeit nicht mit nennenswerten Entlastungen.
Welche Auswirkungen erwarten Sie bei den Preisen für Autochips?
Wir erfüllen grundsätzlich unsere Verträge und haben mit unseren großen Kunden meist ganzjährige Liefervereinbarungen. Ohnehin werden im Automotive-Bereich eher längerfristige Vereinbarungen geschlossen als etwa bei Consumerelektronik. Allerdings wird es in der Branche angesichts des Chipmangels bei zusätzlichen Bestellungen oder kurzfristigen Änderungen Nachverhandlungen geben.
Werden Autokonzerne demnächst stärker direkt mit den Halbleiterunternehmen zusammenarbeiten?
Unsere unmittelbaren Geschäftsbeziehungen haben wir mit den großen, den sogenannten Tier-1-Zulieferern der Autohersteller. Über Entwicklungspartnerschaften arbeiten wir schon heute direkt mit Autoherstellern zusammen. Die Bedeutung dieser Partnerschaften wird zunehmen, weil die Halbleiterbranche für das Auto bereits eine Schlüsselindustrie ist. Mit der Elektrifizierung und Vernetzung der Fahrzeuge steigt der Anteil der Chips im Auto weiter. Um Lieferengpässe zu vermeiden, sollten Automobilzulieferer und Hersteller ihren Planungshorizont von derzeit zwölf Wochen unbedingt erhöhen. So könnte auch die zeitintensive Halbleiterproduktion berücksichtigt werden.
Bitte erläutern Sie das näher.
Die Produktion eines modernen Mikrocontrollers braucht bis zu 26 Wochen. Noch viel mehr Zeit muss man einrechnen, wenn zusätzliche Kapazität neu aufgebaut werden muss, zum Beispiel in Zeiten starken Wachstums. In Anbetracht der über alle Branchen hinweg steigenden Halbleiternachfrage wird die langfristige und verbindliche Planung bei Automobilchips wichtiger. Dazu gehört ein ausgleichendes Management der Lagerbestände, insbesondere bei Produkten mit langen Lieferzeiten. Für Bereiche mit besonders großem Wachstum bietet Infineon der Autoindustrie Kapazitätspartnerschaften an. Die Programme haben sich in anderen Branchen bewährt, etwa bei Serverprodukten oder im Industriebereich.
Wird die Chipbranche als Reaktion auf die Engpässe die Kapazitäten erhöhen?
Das macht sie bereits, und zwar weltweit, auch in Europa. Ein Hochfahren der Kapazität in wenigen Tagen und Wochen ist nicht möglich. Die Branche ist eine der komplexesten, kapitalintensivsten und arbeitsteiligsten Industrien. Deshalb wird stetig investiert und nicht ad hoc, um Nachfragespitzen auszugleichen. Entscheidend für Investitionen sind immer langfristige Erwägungen.
Welche Folgen ergeben sich für Chiphersteller, etwa mehr Übernahmen?
Die Bedeutung von Halbleitern und die Notwendigkeit von vorausschauend getätigten Investitionen wird in der aktuellen Marktsituation für alle Teilnehmer deutlicher. Dies wird die Kooperation zwischen Halbleiterherstellern und ihren wichtigsten Kunden verstärken. Notwendig wird auch gemeinsame Verantwortung für die Kapazitätsplanung. Dass dies zu verstärkten Übernahmen führt, glaube ich nicht. Die Marktkonsolidierung wird, wie schon in den letzten Jahren, weitergehen, weil größere Unternehmen Kostenvorteile erzielen.
Was kann Infineon zur Verbesserung der Lieferfähigkeit beitragen?
Wir erfüllen unsere vertraglichen Lieferzusagen. Im vergangenen Jahr haben wir unsere Lagerbestände über das normale Maß hinaus aufgestockt, um mögliche Lieferunterbrechungen zu vermeiden oder zu minimieren. Wir erweitern unsere Fertigungskapazitäten. Und wir halten engen Kontakt zu unseren Kunden und kommunizieren transparent.
Der weltgrößte Auftragsfertiger TSMC fertigt 70 Prozent der Mikrocontroller, wo die Engpässe besonders groß sind. Wie kann diese Abhängigkeit sinken?
Wenn der Bedarf dauerhaft hoch bleibt, wird das der Markt regeln. Unternehmen, die diesen Markt als attraktiv einschätzen und über das Know-how und Kapital verfügen, werden sich überlegen, hier zu investieren. Allerdings nur mit langfristiger Perspektive. Für ein mittelfristiges Engagement sind die Investitionen zu hoch, die Vorlaufzeiten zu lang und die Industrie zu komplex.
Ähnlich wie die Konkurrenz vergibt Infineon die Produktion von Mikrocontrollern größtenteils an Dienstleister. Wird dieser Anteil hoch bleiben?
Ja. Infineon fertigt selbst, wenn sich daraus ein Wettbewerbsvorteil ergibt, zum Beispiel Leistungshalbleiter und Sensoren. Ausgelagert wird die Herstellung von Produkten, bei denen die Differenzierung zum Wettbewerb im Design und in der Architektur liegt, nicht aber in der Fertigungstechnologie. Hierzu gehören Mikrocontroller. Ihr Anteil an unserer Auftragsfertigung ist deshalb deutlich höher als bei anderen Chipprodukten. Diese Überlegung bleibt entscheidend.
Ist Europa von den Engpässen stärker betroffen, weil die Chipindustrie nicht so stark ist wie in Asien oder den USA?
Wir sehen nicht, dass Europa stärker betroffen wäre als die USA. Dort gibt es ebenfalls Engpässe, auf die die US-Regierung reagiert hat. Verschiedene Regierungen haben in den letzten Jahren die Bedeutung von Halbleitern erkannt und fördern die regionale Produktion. Dabei geht es zum einen um die lokale Wertschöpfung und zum anderen um den Erhalt und Ausbau der Kompetenz. Die Diversifizierung von Lieferketten und Produktionsstandorten erhöht die Widerstandskraft der Branche und verringert im Krisenfall Lieferengpässe.
Audi-Chef Markus Duesmann wünscht sich Chiphersteller, "die mit Asien und den USA mindestens auf Augenhöhe sind". Das Bundeswirtschaftsministerium schätzt die Investitionen in Europa auf 50 Milliarden Euro. Der Staat soll davon 20 bis 40 Prozent übernehmen. Wie sehen Sie das?
Spätestens der Konflikt zwischen den USA und China hat viele wachgerüttelt. Wenn Europa Arbeitsplätze und Wohlstand sichern will, braucht es eine stärkere technologische Souveränität. Dazu zählt auch Halbleiterkompetenz. Wir begrüßen die Initiativen in Deutschland und Europa. Die Mikroelektronik ist ein Schlüssel für die Bewältigung von Herausforderungen wie dem demografischen und sozialen Wandel, die Klimaveränderung, Ressourcenknappheit, Urbanisierung. Die dafür notwendige digitale Transformation funktioniert auch über Mikroelektronik. Wir benötigen in Europa eine leistungsstarke und breit aufgestellte Mikroelektronikindustrie mit Entwicklungs-, Design- und Fertigungskapazitäten vor Ort.
Und das Finanzielle?
Investitionen im zweistelligen Milliardenbereich durch Wirtschaft und Staat sind dafür ein wichtiger Schritt. Zugleich muss uns dabei jedoch eines bewusst sein: Die Halbleiterindustrie ist global. Sie speist ihren Erfolg aus Skaleneffekten, der letztlich allen zugutekommt. Deshalb plädieren wir weiter für eine internationale Arbeitsteilung unter fairen Wettbewerbsbedingungen.
Auf welchen Gebieten kann Europa am besten aufholen?
Wenn wir langfristig erfolgreich bleiben wollen, müssen wir die ganze Wertschöpfungskette verstehen. Und wenn wir sie für uns nutzen wollen, dann müssen wir die wichtigen Elemente beherrschen. Europa ist in einigen Bereichen führend, wie etwa bei Leistungshalbleitern, Sensorik oder bei Sicherheitschips. Diese Stärken müssen wir ausbauen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. 6G oder künstliche Intelligenz sind Themenfelder, die wir zusätzlich und frühzeitig angehen müssen. Hier sind allerdings hohe Investitionen notwendig. Daher muss meiner Meinung nach Europa insgesamt Initiative zeigen. Dafür braucht es den politischen Willen. Was benötigt wird, geht über das hinaus, was ein Unternehmen alleine entscheiden und leisten kann.
Asien als Schwerpunkt der Chipauftragsfertigung, das ist bisher eine allgemein akzeptierte und genutzte Entwicklung in der Branche. Nun wird in Brüssel geprüft, für Chips mit Leiterbahndurchmessern unterhalb von zehn Nanometern Werke in Europa zu bauen. Wie schätzen Sie diese Option ein?
Kein europäischer Halbleiterhersteller für sich genommen könnte eine solche Chipfabrik bauen. Die Investitionskosten für Fabriken mit immer kleineren Strukturgrößen sind immens. Sie liegen im zweistelligen Milliardenbereich. Deshalb gibt es aktuell nur noch drei Konzerne, die sich diese technologische Weiterentwicklung, auch bekannt als "Moore’s Law", leisten: TSMC, Samsung und Intel, die jetzt aufschließen wollen. Europa ist aus diesem Rennen vor langer Zeit ausgestiegen und hat damit auch nicht mehr das erforderliche Know-how vor Ort.
Was kann Europa dann tun?
Europäische Firmen folgen dem Prinzip "More than Moore" und haben deshalb Halbleiter-Know-how mit dem Fokus auf Komponenten für Energieeffizienz, Sicherheit, Sensorik und Ähnliches aufgebaut. Darin halten europäische Unternehmen führende Marktpositionen. Ein Wiedereinstieg in das Rennen um "Moore’s Law" ist kein Selbstzweck. Den Anreiz, neue Chipfabriken zu bauen, können nur die Erfordernisse des Marktes bieten. Daher muss der nächste Schritt in Europa darauf abzielen, von den eigenen Stärken ausgehend innovative Produkte zu entwickeln und zusätzliche Marktanteile zu gewinnen. Schon dies erfordert erhebliche Investitionen und einen langen Atem. Erst danach stellt sich die Frage, welche Leiterbahndurchmesser und Produktionskapazitäten in Europa dafür benötigt werden.
Wird Infineon wegen der höheren Effizienz und der größeren Mengen bei weiteren Chipsegmenten die Fertigung auf größere 300-Millimeter-Wafer umstellen - ähnlich wie zuletzt bei Leistungshalbleitern?
Wir fertigen selbst, wenn sich daraus ein Wettbewerbsvorteil ergibt. Unsere Annahmen für eine höhere Produktivität mit 300-Millimeter-Wafern ha- ben sich in der Volumenproduktion bestätigt. Wo das auch technisch sinnvoll ist, baut Infineon deshalb zusätzliche Kapazitäten mit 300-Millimeter- statt mit neuer 200-Millimeter-Techno- logie auf. Existierende 200-Millimeter-Kapazitäten werden nicht umgestellt. Es ist ökonomisch sinnvoller, sie weiter zu nutzen.
Vita:
Helmut Gassel:
Der Physiker und promovierte Elektrotechniker kam 1995 zur damaligen Siemens-Tochter Infineon. Im Juli 2016 wechselte der 57-jährige gebürtige Dortmunder, damals Chef der Industriechipsparte als Vorstand für Vertrieb, Strategie und Marketing in das Führungsgremium des Chipkonzerns aus Neubiberg bei München.
INVESTOR-INFO
Infineon
Europas Chip-Primus
Die großen Zukäufe im Silicon Valley erweitern Infineons Portfolio bei Leistungshalbleitern sowie Chipsystemen und Komponenten für das Internet der Dinge. Zudem sind höhere Margen möglich. Bei Chips für die globale Autobranche ist Infineon weltweit die Nummer 1. Die Sparte liefert rund 40 Prozent von zuletzt 8,6 Milliarden Euro Umsatz. Komponenten für Elektro- und Hybridautos werden 2030 für rund 30 Prozent des Spartenumsatzes stehen, schätzen Analysten.