Im Juni lag sie noch bei 2,3 Prozent. Ökonomen wurden von dem steilen Anstieg überrascht: Sie hatten nur mit 3,3 Prozent gerechnet. In den kommenden Monaten dürfte die Inflationsrate Richtung fünf Prozent marschieren und erst 2022 wieder merklich nachgeben, sagten Experten voraus. Gewerkschaften fordern wegen drohender Kaufkraftverluste kräftige Lohnerhöhungen.
"Der erwartete starke Anstieg der Inflation hat begonnen", sagte Ökonom Friedrich Heinemann vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). "In den nächsten Monaten dürfte Deutschland den stärksten Inflationsschub seit drei Jahrzehnten erleben." Ein Grund dafür ist ein sogenannter Basiseffekt, der auf die coronabedingte Senkung der Mehrwertsteuersätze im Juli 2020 zurückzuführen ist. Die Bundesregierung hatte die Mehrwertsteuer in der zweiten Jahreshälfte 2020 im Kampf gegen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie von 19 auf 16 Prozent beziehungsweise von sieben auf fünf Prozent gesenkt, was viele Waren und Dienstleistungen günstiger machte. Jetzt kehrt sich dieser Effekt um.
"Es sollte niemanden überraschen, wenn die Verbraucherpreise am Jahresende in Deutschland nahe bei fünf Prozent liegen", sagte deshalb der Chefvolkswirt des Vermögensverwalters HQ Trust, Michael Heise. Auch Bundesbankpräsident Jens Weidmann rechnet damit, dass sich die Inflationsrate in diese Richtung bewegen könnte. Entspannung ist wohl erst im nächsten Jahr in Sicht, wenn der Mehrwertsteuereffekt wieder verschwindet. Allerdings gehen die meisten Experten derzeit nicht davon aus, dass die Teuerung im kommenden Jahr auf diesem Niveau verharren wird. "Für eine auch längerfristig spürbar über zwei Prozent liegende Inflationsrate müssten auch die Löhne anziehen, wofür es bisher noch keine Anzeichen gibt", sagte Commerzbank-Ökonom Ralph Solveen.
"WIR BRAUCHEN KRÄFTIGE LOHNSTEIGERUNGEN"
Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi fordert allerdings angesichts der stark steigenden Inflation spürbare Lohnerhöhungen. "Wir brauchen gerade auch wegen der anziehenden Preise kräftige Lohnsteigerungen für die Beschäftigten", sagte die stellvertretende Verdi-Vorsitzende Andrea Kocsis der Nachrichtenagentur Reuters. "Verdi wird deshalb ihre offensive Lohnpolitik in den Branchen fortsetzen." Es gelte, bei den Tarifabschlüssen den guten Trend der letzten Jahre fortzusetzen. "Keineswegs ist es akzeptabel, dass viele Arbeitgeber ihre krisenbedingten oder selbstverschuldeten Probleme durch geringere Entgeltsteigerungen auf die Beschäftigten abzuwälzen versuchen und Beschäftigte Kaufkraftverluste hinnehmen sollen", sagte Kocsis.
Für viele Arbeitnehmer bedeutet die hohe Inflation einen realen Kaufkraftverlust. Die Löhne von Millionen Beschäftigten mit einem Tarifvertrag werden dem gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) zufolge 2021 erstmals seit einem Jahrzehnt langsamer steigen als die Verbraucherpreise. Unter Berücksichtigung der im ersten Halbjahr abgeschlossenen Verträge und der in den Vorjahren für 2021 vereinbarten Erhöhungen dürften die Tariflöhne um durchschnittlich 1,6 Prozent zulegen.
Das Bundeswirtschaftsministerium geht davon aus, dass sich der Inflationsdruck nach dem Auslaufen diverser Sondereffekte abbaut. "Eine nachhaltige Erhöhung der Inflation ist aus heutiger Sicht nicht zu erwarten", sagte ein Sprecher zu Reuters.
"PREISE WEGEN HOHER NACHFRAGE ANGEHOBEN"
"Hinter dem aktuellen Preisauftrieb stehen starke Verteuerungen verschiedenster Rohstoffe sowie Lieferengpässe bei wichtigen Vorleistungen, die zu langen Lieferzeiten und geringen Lagerbeständen geführt haben", sagte Ökonom Heise. So verteuerte sich Energie im zu Ende gehenden Monat um 11,6 Prozent zum Vorjahreszeitraum. Auch die Einführung eines CO2-Preises für den Klimaschutz hat Benzin, Diesel und Heizöl teurer gemacht. Nahrungsmittel kosteten 4,3 Prozent mehr. "Außerdem haben einige Dienstleister erwartungsgemäß das Wiederöffnen genutzt, um bei hoher Nachfrage auch ihre Preise anzuheben", sagte der Chefvolkswirt der Berenberg Bank, Holger Schmieding. "Die Bürger wollen ja wieder in die Gaststätten und Kneipen."
Die Europäische Zentralbank (EZB) strebt in der Währungsunion mittelfristig eine Teuerung von zwei Prozent an. Für eine Übergangszeit nimmt sie auch ein Überschreiten dieser Zielmarke in Kauf, um weiterhin mit viel billigem Geld die Konjunkturerholung in der Euro-Zone anschieben zu können. Die EZB hilft damit auch hoch verschuldeten Staaten wie Italien, die sich deshalb sehr günstig refinanzieren können.
rtr