Statt dessen besteht für Anleger das Risiko eines Totalverlustes. Sie erhalten keine Unternehmensanteile, sondern investieren in die Hoffnung, vom Cyberwährungs-Boom im Gefolge des Bitcoin-Hypes zu profitieren. "Bei einem ICO handelt es sich um ein Crowdfunding", betonen die Experten des Vermögensberaters Incrementum in einer Kryptowährungsstudie. Beim Crowdfunding investieren Internet-Nutzer in Projekte, die auf Webseiten vorgestellt werden.

Die Verfechter der ICOs heben die Kostenvorteile hervor. Denn anders als bei einem IPO, dessen Rechnung schnell in die Millionen geht, können Firmen bei einem ICO das Anlegerkapital fast zum Null-Tarif einsammeln. Doch die Warnungen vor diesem neuen Investitionsfeld werden lauter. "ICOs werden derzeit in vielen Fällen missbräuchlich genutzt", sagt Dirk Siegel, Partner bei der Unternehmensberatung Deloitte. "Auf Sicht besteht daher die Gefahr, dass im ICO-Markt viel Geld verbrannt wird." Die Aufsichtsbehörden sollten daher Regeln für die Platzierung neuer Kryptowährungen aufstellen.

"RUSSISCH ROULETTE MIT VOLLEM MAGAZIN"



Hauptgrund für die Warnungen sind die fehlende staatliche Regulierung und Rechtssicherheit. ICOs seien unreguliert, intransparent und technologisch ungetestet, betont die europäischen Börsenaufsicht ESMA. Die deutsche Aufsichtsbehörde BaFin macht deutlich, dass ein Totalverlust für Anleger möglich sei. Oft seien Betrüger am Werk und die Vertragsbedingungen seien häufig unzureichend, unverständlich oder gar irreführend. China hat die Herausgabe neuer Cyberdevisen deshalb gleich komplett verboten.

"Der Markt für ICOs ist derzeit überwiegend ein reiner Spekulationsmarkt, weil nichts geregelt ist", sagt ein Anwalt, der auf Kapitalmarkt- und Wertpapierrecht spezialisiert ist. "Neun von zehn ICOs sind von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Das ist für Anleger wie russisch Roulette mit vollem Magazin." Im Vergleich zu ICOs seien Optionsscheine harmlos - diese seien von den Aufsichtsbehörden im Detail geregelt.

Nach Berechnungen der Experten der Unternehmensberatung Ernst & Young (EY) wird ICO-Investoren im Schnitt zehn Prozent ihre Kapitals gestohlen - meist durch Hacker-Angriffe. Dazu kommen Mängel in den "White Paper" genannten Verkaufsprospekten. Weil verbindliche Regeln fehlen, steht es Firmen frei, welche Informationen sie veröffentlichen. "Wir waren schockiert über die Qualität einiger White Paper", sagt Paul Brody, EY-Experte für die Blockchain-Technologie, auf der Bitcoin & Co. basieren. So schließe beispielsweise ein Prospekt die Ausgabe weiterer Anteile der zugehörigen virtuellen Währung aus, während in der Software der Cyber-Devise eine Möglichkeit hierfür vorgesehen sei.

FIRMEN WERBEN ÜBER SOZIALE MEDIEN UM INVESTOREN



Ganz unkontrolliert könnten Unternehmen dennoch nicht operieren, betont Yassin Hankir, Gründer und Chef des Spar-App-Anbieters Savedroid, der aktuell für seine Firma per ICO Geld bei Investoren einsammelt. "Die Community ist aufmerksam und stellt kritische Fragen. Bei undurchsichtigen Aktionen unsererseits würde sofort ein Shitstorm losbrechen."

Anders als bei klassischen Börsengängen schalten Unternehmen bei einem ICO üblicherweise keine Anzeigen oder TV-Werbespots. Auch sogenannte Roadshows, Präsentationen für institutionelle Anleger, sind selten. Die Firmen trommeln stattdessen im Internet für ihre Geschäftsidee und die neue Kryptowährung. Wichtige Werkzeuge hierfür sind Facebook, Twitter und Messenger-Dienste wie WhatsApp oder Threema. "Wir versorgen Investoren und Interessenten 24 Stunden und sieben Tage die Woche mit Informationen", sagt Savedroid-Chef Hankir. "Das wird von uns auch erwartet."

Dem Branchendienst CoinMarketCap.com zufolge gibt es derzeit knapp 1600 Kryptowährungen. Täglich kommt eine zweistellige Zahl neuer Cyber-Devisen hinzu. Dank des potenziellen Interesses aus aller Welt können sich manche Firmen vor Anfragen kaum retten. Aus Furcht, etwas zu verpassen, stürzen sich Anleger auf jeden ICO. Die zehn kürzesten Emissionen zogen im Schnitt 300.000 Dollar Kapital an - pro Sekunde.