Die Nachricht kam überraschend: Im Frühjahr kündigte der Firmengründer und langjährige Vorstandschef Simon Moroney an, seinen Vertrag bei dem Biotechunternehmen Morphosys nicht mehr zu verlängern. Der gebürtige Neuseeländer ist einer der führenden Köpfe der deutschen Biotechindustrie und will nach eigenem Bekunden mit neuen Tätigkeiten in der Branche aktiv bleiben. Auf seinen Nachfolger Jean-Paul Kress wartet die Aufgabe, die Gesellschaft in eine neue Phase ihrer Entwicklung zu führen, wenn das erste selbst entwickelte Medikament bis Mitte des kommenden Jahres die Zulassung in den USA erhalten sollte. Vor seinem Wechsel zu Morphosys war der promovierte Mediziner Vorstandschef der im November 2018 von Alexion Pharma übernommenen Biotechfirma Syntimmune und Geschäftsführer des Nordamerika-Geschäfts von Sanofi Genzyme.

Börse Online: Herr Kress, was reizt Sie, von Nordamerika an die Spitze eines deutschen Biotechunternehmens zu wechseln?
Jean-Paul Kress: Morphosys ist eine der führenden Firmen, die Antikörper-Wirkstoffe entdecken und entwickeln. Das Spannende an der neuen Position ist, das Unternehmen in der aufregenden Phase des Übergangs von einem technologieorientierten zu einem voll integrierten pharmazeutischen Unternehmen mit eigenen vermarkteten Produkten zu begleiten. Dabei haben wir uns das klare Ziel gesetzt, eine der führenden Firmen im Bereich der Blutkrebstherapien zu werden.

Welche Prioritäten setzen Sie?
Morphosys hat eine exzellente wissenschaftliche Expertise, und ich möchte mit meiner langjährigen medizinischen und ökonomischen Erfahrung ein wichtiges Bindeglied einbringen, um diesen Transformationsprozess zu realisieren. Eine weitere Aufgabe für mich ist es, die Verbindungen und den wissenschaftlichen Austausch mit lokalen Biotechnetzwerken in den USA herzustellen und zu intensivieren, vor allem in Boston - also direkt vor unserer Haustür.

Kannten Sie bereits vor Ihrer Ernennung zum Vorstandschef das Managementteam von Morphosys persönlich?
Morphosys war mir bereits bekannt, ehe ich für diese Position kontaktiert wurde, also nachdem Simon Moroney seine Absicht bekannt gegeben hatte, seinen Vertrag als CEO nicht mehr verlängern zu wollen.

Sie leiten eine Biotechfirma, deren Forschungsaktivitäten in Deutschland liegen. Zugleich baut Morphosys die Präsenz in den USA aus. Wie gelingt hier die Balance?
Mit meiner europäischen Herkunft und meinen profunden Kenntnissen des nordamerikanischen Markts bringe ich genau die Voraussetzungen mit, die notwendig sind, um die US-Tochtergesellschaft nahtlos in das Gesamtunternehmen zu integrieren. Zugleich arbeite ich zusammen mit meinen Vorstandskollegen daran, unsere Präsenz in den US-Märkten weiter auszubauen.

Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
Für mich kommt es darauf an, mein Arbeitspensum auf beide Seiten des Atlantiks zu verteilen. Ich möchte so schnell wie möglich die Kultur von Morphosys verstehen und was die Mitarbeiter antreibt. In den USA wiederum müssen wir die Vertriebsstrukturen für unser erstes Produkt aufbauen und hochqualifizierte Mitarbeiter einstellen.

Wie wollen Sie den Antikörper Tafasitamab auf dem Markt positionieren - immer vorausgesetzt, das Produkt erhält wie erwartet bis Mitte 2020 die Zulassung in den USA?
Tafasitamab ist ein Antikörper, der in klinischen Studien für die Behandlung von diffusem großzelligem B-Zell-Lymphom (DLCBL) entwickelt wird - und zwar für vorbehandelte Patientengruppen, bei denen diese Blutkrebsform nach der ersten Behandlung wieder auftritt oder die nicht auf bisherige Therapien angesprochen haben. Wegen des hohen medizinischen Bedarfs hat die US-Zulassungsbehörde FDA dem Wirkstoffkandidaten 2017 den Break-through-Therapy-Status eingeräumt und somit die Möglichkeit eines beschleunigten Zulassungsverfahrens.

Tafasitamab ist ein Nischenprodukt. Ein Vor­teil, um die Arznei selbst zu vermarkten?
Nun, ich würde Tafasitamab nicht als ein Nischenprodukt bezeichnen. Allein in den USA werden jährlich etwa 30 000 neue DLCBL-Fälle diagnostiziert. Aktuell liegt unser Fokus auf der Behandlung von Patienten mit dieser Krebserkrankung. Wir denken aber, dass dieser Antikörper durch seinen Wirkmechanismus das Potenzial hat, auch bei anderen Tumoren, die aus B-Zellen entstehen, seine Wirkung zu entfalten.

Mit anderen Worten: Das Zielmolekül für Tafasitamab spielt auch bei anderen Krebsarten eine entscheidende Rolle?
Das ist unsere Überlegung, und wir stützen uns dabei auf die beeindruckenden Wirksamkeitsdaten von Tafasitamab, die uns zur Verfügung stehen. Dieser Antikörper bindet an das Antigen CD19 und kann hier möglicherweise den direkten Zelltod auslösen. Außerdem aktiviert er die körpereigenen Effektorzellen, um Krebszellen zu bekämpfen. Damit kommt CD19 auch als potenzielles Zielmolekül für Therapien gegen andere B-Zell-basierte Lymphome und Leukämien infrage. Sollten wir - wie erwartet - die Zulassung für Tafasitamab zur Behandlung von DLCBL erhalten, werden wir in den nächsten Jahren die Behandlungsoptionen in anderen Krebsarten testen.

Worauf kommt es an, um ein zugelassenes Produkt erfolgreich zu vermarkten?
Um Tafasitamab als neues Arzneimittel schnell am Markt etablieren zu können, arbeiten wir an einem engen Netzwerk mit Fachärzten und Meinungsführern in der Krebsmedizin. Entscheidend für den Erfolg ist hierbei, die klinischen Daten des Präparats im Hinblick auf den medizinischen Nutzen für die Patienten präzise und prägnant zu erklären. Zugleich sind wir bereits in engem Kontakt mit Patientenvereinigungen, politischen Meinungsträgern, Krankenkassen und Versicherungen.

Dafür benötigen Sie neues Personal, oder?
Um den Nutzen eines Medikaments bereits vor der Zulassung zu kommunizieren, müssen wir hochqualifizierte Fachkräfte einstellen, die Erfahrung in der Vermarktung von Arzneien mitbringen. Dieses Aufgabenfeld ist neu für Morphosys. Lassen Sie mich hier erwähnen, dass es dabei nicht nur um den US-Markt geht. Wir haben erst kürzlich kommuniziert, dass Morphosys beabsichtigt, auch in Europa den Zulassungsantrag für Tafasitamab zu stellen.

Fakt aber ist: Nordamerika bleibt für europäische Biotechfirmen die wichtigste Anlaufstelle, was Produktvermarktung und Kapitalbeschaffung angeht.
Europa als Ganzes hat weiter Nachholbedarf, was die Risikoneigung zu Firmengründungen wie auch die Investitionsbereitschaft in Forschung und Entwicklung der Biotechindus­trie angeht. Am US-Markt existiert hier weitaus mehr Bereitschaft, Innovationen zu finanzieren. Um sich neue Investoren zu erschließen, hat Morphosys hier in seiner 27-jährigen Firmengeschichte die richtigen Schritte in der richtigen Reihenfolge unternommen.

Inwiefern?
Unter Simon Moroney hat Morphosys seine internationale Investorenbasis kontinuierlich erweitert. Das erfolgreiche Zweitlisting an der Nasdaq im April 2018 untermauert die Richtigkeit dieser Strategie.

Investoren begeistern sich doch in erster Linie für die Equity Story einer Firma, unabhängig davon, an welcher Börse die Aktie gehandelt wird.
Sicher hatten etliche US-Investoren bereits vorher ihr Interesse für die Morphosys-Aktie entdeckt. Die Möglichkeit, die Aktien nun als Depository Receipts in US-Währung zu erwerben, zielt aber jetzt auf sämtliche Fondsgesellschaften mit Sitz in den USA ab, die nur in US-Dollar investieren können. Wir sprechen hier von Fonds, die mit einem Gesamtvolumen von schätzungsweise mehr als 200 Milliarden US-Dollar über solche Depository Receipts ihre Investments in europäische Firmen tätigen.

Mit welchen Botschaften wollen Sie neue Investoren ansprechen?
Wie eingangs erwähnt soll sich Morphosys zu einem der führenden Biotechunternehmen für die Behandlung von Blutkrebs entwickeln. Türöffner ist die Marktzulassung von Tafasitamab zur Behandlung von DLCBL. Darüber hinaus werden weitere klinische Kandidaten in unserer Entwicklungspipeline in den nächsten Jahren ihr Wertsteigerungspotenzial entfalten. Ich denke hier in erster Linie an MOR202 gegen Multiples Myelom und Möglichkeiten bei Autoimmunerkrankungen sowie MOR106 zur Behandlung von atopischer Dermatitis.

Bleibt Morphosys unter Ihrer Führung eine europäische Firma?
Ich sehe Morphosys als Musterbeispiel für eine erfolgreiche Biotechfirma aus Europa, in deren nächster Entwicklungsstufe mit eigenen Medikamenten die USA eine entscheidende Rolle spielen wird.



Morphosys-Aktie: Neues Kursziel:


Die Wahrscheinlichkeit, dass der Antikörperspezialist bis 2020 die Zulassung für sein erstes Produkt erhält, ist gestiegen. Das hat den Aktienkurs auf ein neues Jahreshoch befördert. Zum Einsatz kommen soll Tafasitamab als Kombinationstherapie gegen diffuses großzelliges B-Zell-Lymphom, eine besonders aggressive Blutkrebsform. Um das Umsatzpotenzial komplett abzuschöpfen, will Morphosys dieses Produkt selbst vermarkten. Nach den USA strebt man auch die Zulassung in Europa an. Daneben steigen auch die Einnahmen aus erfolgsabhängigen "Meilensteinzahlungen" für Antikörper, die von anderen Unternehmen vertrieben werden. So verbuchte Morphosys von GlaxoSmithKline im zweiten Quartal 2019 eine Zahlung von 22 Millionen Euro. Schwarze Zahlen sind noch nicht in Sicht. Mit den steigenden Mittelzuflüssen der nächsten Jahre wird die Gesellschaft aber eigene Forschungsprogramme finanzieren und Verluste verringern. Wir sehen Morphosys weiter als eine der aussichtsreichsten Biotechaktien in Europa und erhöhen Ziel- und Stoppkurs.