Dabei handelt es sich um ein weltweit zu beobachtendes Phänomen. Das zeigen Daten, die Sam Stovall, US-Aktienstratege bei S&P Global Market Intelligence, für den Zeitraum 1998 bis 2015 berechnet hat. Demnach stieg der US-Leitindex S&P 500 von November bis April durchschnittlich um 5,9 Prozent. In der schwächeren Börsenzeit von Mai bis Oktober waren es nur 0,7 Prozent. Außerhalb der Vereinigten Staaten geht die Schere noch weiter auseinander: Beim S&P Developed Ex-US-Index, der Börsen entwickelter Länder abbildet, steht einem Plus von 7,0 Prozent ein Minus von 0,1 Prozent gegenüber und beim S&P Emerging Index gar ein Plus von 11,5 Prozent einem Minus von 0,2 Prozent.
Kein Wunder, dass Anleger angesichts des relativ schwachen Starts in den diesjährigen Mai weiche Knie bekommen. Doch wie die meisten Börsenweisheiten sollte auch "Sell in May" kritisch hinterfragt werden.
Das beginnt mit der Erkenntnis, dass der Mai - zumindest in Deutschland - aus historischer Sicht keineswegs ein schwacher Börsenmonat ist (was keine Überraschung ist, sonst müsste es ja heißen: "Sell in April"). Analyst Uwe Streich von der Landesbank Baden-Württemberg rechnet für den Zeitraum 1988 bis 2015 vor: "Im historischen Mittel gab der DAX-Kursindex im Mai zwar um 0,4 Prozent nach, da auf den Wonnemonat jedoch mehr als 45 Prozent aller bisher ausgeschütteten Dividenden entfielen, fiel die Gesamtperformance mit plus 0,8 Prozent deutlich besser aus als die reine Kursentwicklung." Inklusive Ausschüttungen gab es auch im Juni und im Juli Wertzuwächse zu verbuchen. Schlecht lief es hingegen im August und im September. Richtig gefährlich wird es typischerweise meist erst in diesen mit Abstand schwächsten Börsenmonaten.
Mit Blick auf das laufende Jahr sind zwei Besonderheiten zu beachten: Eine Schwäche des deutschen Leitindex im August und im September war in der Vergangenheit laut Analyst Streich nur dann äußerst wahrscheinlich, wenn die Kurse zuvor deutlich zugelegt hatten. Die bisher in diesem Jahr eher durchwachsene Entwicklung spreche eher gegen eine ausgeprägte Sommerflaute, weil es an mitzunehmenden Gewinnen als Auslösern mangele.
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US-Wahlen machen Hoffnung
Die zweite Besonderheit ist die Präsidentschaftswahl in den USA. Mit Blick auf den im November anstehenden Urnengang gibt es zwei beachtenswerte historische Kursdaten. Das erste weist für die vergangenen 120 Jahre für den Dow-Jones-Index in den sechs Monaten vor der Wahl ein durchschnittliches Plus von vier Prozent aus. Überdurchschnittlich fielen dabei die Zuwächse laut CIBC-Analyst Brad Brown bei einem Sieg der Republikaner aus, unterdurchschnittlich bei einem Erfolg der Demokraten. Doch das muss Anleger nicht auf einen Sieg des Republikaners Donald Trump hoffen lassen: Denn die Performance-Werte waren auch davon abhängig, ob die Partei des Amtsinhabers oder die Opposition siegte. Gewann die regierende Partei, waren die Kursgewinne im Mittel während der typischen "Sell in May"-Periode mehr als dreimal so hoch wie bei einem Sieg der Herausforderer. Auch stellten sich bei dieser Konstellation nur ein einziges Mal Verluste ein. Das war im Jahr 1956.
Unabhängig davon, ob Demokraten oder Republikaner das Präsidentschaftsamt eroberten, war das "Sell in May"-Phänomen in US-Wahljahren außer Kraft gesetzt. Denn prozentual gesehen legte der S&P-500-Index seit 1950 in 75 Prozent aller dieser Fälle sogar zu, wie Ed Clissold, US-Stratege beim Investmenthaus Ned Davis Research, erklärt. Zudem war es in der Regel für die Kursentwicklung vorteilhaft, wenn sich frühzeitig ein Sieger herauskristallisierte. Darüber, ob all das nur purer Zufall ist, streiten die Experten. Beim Versuch, das Phänomen zu erklären, fällt auf, dass viele Ansätze nicht wirklich überzeugen. Das gilt auch für das besonders beliebte Argument, wonach über die Sommermonate hinweg viele Marktteilnehmer im Urlaub seien und deswegen eine Nachfrageflaute die Kurse schwäche. Denn dagegen spricht, dass das Phänomen auch in Ländern mit anderen Ferienterminen auftritt. Das sieht auch Sam Stovall von S&P so: "Da sich die Märkte unterhalb des Äquators von Mai bis Oktober in ihren Wintermonaten befinden, macht diese Überlegung wenig Sinn."
Für plausibler hält der Aktienstratege dagegen den Verweis auf geringere Kapitalzuflüsse in den Markt über den Sommer hinweg als etwa zur Jahreswende. Was auch immer die Gründe sein mögen, Anlegern stellt sich alljährlich die Frage, wie sie am besten mit "Sell in May" umgehen. Die passende Antwort hat immer auch damit zu tun, ob man darauf setzt, den Markt mit kurzfristigen Anlageentscheidungen zu schlagen. Wer das tut, könnte versucht sein, sich im schwachen Börsenhalbjahr aus dem Markt zurückzuziehen. Doch Vorsicht: Das kostet mitunter mehr als nur die Gebühren für Aus- und Wiedereinstieg (ganz davon abgesehen, dass die frei werdende Liquidität im aktuellen Nullzinsumfeld keine Rendite abwirft). Wie kostspielig es ist, die besten Börsentage eines Jahres zu verpassen, zeigt eine Berechnung von Blackrock für den Zeitraum von 1995 bis 2014. Wer vor 20 Jahren mit 100 000 Dollar an den Start ging und durchhielt, besaß am Ende 654 055 Dollar. Wer dagegen durch Marktabstinenz die 15 besten Handelstage verpasste, kam nur auf 255 393 Dollar.
Ob in diesem Jahr von Mai bis Oktober mit herausragenden Plus-Tagen zu rechnen ist, kann angesichts der komplexen Ausgangslage allerdings niemand vorhersehen. So führt die zuversichtliche Fraktion als Kaufargumente unter anderem den bereits weitverbreiteten Pessimismus, vor allem aber die fehlenden Anlagealternativen ins Feld. Skeptiker dagegen verweisen auf die zahlreichen Risiken für die Weltwirtschaft und die nachlassende Zugkraft der expansiven Geldpolitik. Wasser auf die Mühlen der Pessimisten dürfte auch die Tatsache sein, dass der bewährte Gebert-Indikator, nach dem auch BÖRSE ONLINE zum Teil die Investitionsquote des Basis-Depots steuert, auf "Verkaufen" gesprungen ist.
Eine ähnlich eindeutige Sprache spricht die Charttechnik, die bei vielen führenden Aktienindizes seit April 2015 mindestens auf Gelb steht. Seitdem existieren Abwärtstrends, die es nahelegen, nicht mehr zu 100 Prozent im Markt aktiv zu sein.
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Gesunder Kompromiss
Wer nach einer konkreten Lösung für das "Sell in May"-Phänomen sucht, für den hat S&P-Experte Sam Stovall Ansätze mit überzeugenden Ergebnissen aus der Vergangenheit parat. Das Erfolgsrezept heißt Branchenrotation. Denn die Performance von Mai bis Oktober war im historischen Vergleich besser, wenn statt auf die marktbreiten Börsenbarometer auf Subindizes mit geringer Volatilität gesetzt wurde. Für den S&P Developed Ex-US-Index resultierte das von 1998 bis 2015 statt in einem Minus von 0,1 Prozent in einem Plus von 3,1 Prozent.
Stovall rät bei Zweifeln hinsichtlich der weiteren Marktentwicklung dazu, diese mit Investments in schwankungsarme Werte auszusitzen. Im langfristigen Vergleich glänzten dabei vor allem zwei Branchen: nichtzyklische Basiskonsumgüter (englisch: Consumer Staples) und Gesundheit (Healthcare). Die Strategie, im schwächeren Sommerhalbjahr zu je 50 Prozent auf die US-Branchenindizes Healthcare und Consumer Staples zu setzen, im stärkeren Winterhalbjahr auf den S&P-500-Index, lieferte überzeugende Ergebnisse. Von Ende 1990 bis zum 22. April 2016 sprang damit durchschnittlich ein Plus von 13,1 Prozent pro Jahr heraus. Bei einem Dauerinvestment im S&P 500 blieben dagegen nur 9,9 Prozent hängen.
Es sieht sogar danach aus, als könnten sich Langfristinvestoren die Umschichtung in den S&P 500 im Herbst sogar sparen und einfach an den Engagements in diesen beiden Branchen festhalten. Denn unter den zehn S&P-Sektoren sind es die Bereiche Consumer Staples und Healthcare, die seit Ende 1999 allgemein die beste Wertentwicklung erzielten. Während sich bei ihnen der Anstieg auf 157 und 147 Prozent summiert, waren es beim S&P-500-Index nur rund 41 Prozent.
Gefragt sind Titel aus den beiden genannten Branchen in schwierigen Marktphasen wegen der Robustheit ihrer Ergebnisse. Denn wie die Analysten der Bank-of-America-Tochter Merrill Lynch errechnet haben, sind bei den im S&P 500 vertretenen Gesundheitsaktien die Unternehmensgewinne in den zurückliegenden fünf Rezessionen im Schnitt nur um fünf Prozent gesunken, bei den Herstellern von Basiskonsumgütern sind sie sogar um 15 Prozent gestiegen. Wegen dieser Eigenschaft sind beide Sektoren für Langfristinvestments bestens geeignet.
Das gilt insbesondere für Branchenvertreter, die seit 20 oder mehr Jahren mit steigenden Kursen aufwarten und diesen Aufwärtstrend jüngst mit neuen Allzeithochs untermauerten. Im Gesundheitssektor tun sich hier die US-Unternehmen C. R. Bard (Diagnostik, medizinische Einwegartikel) und Stryker (chirurgische Instrumente, Endoskopie-Systeme) sowie der dänische Diabetes-Spezialist Novo Nordisk hervor. Im Bereich der Basiskonsumgüter erscheinen der US-Konzern Church & Dwight (Hygieneartikel, Haushaltschemie), der Getränkeklassiker PepsiCo und der Zigarettenhersteller British American Tobacco sowohl kurz- als auch langfristig aussichtsreich. "Gerade in schlechten Zeiten essen, rauchen und trinken die Hartgesottenen. Übertreiben sie es, brauchen sie einen Arzt", witzelt Stovall. Auch Humor kann helfen, mit dem "Sell in May"-Phänomen fertigzuwerden.
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Anleihen, Devisen und Rohstoffe
Jahreszeitliche Kursmuster abseits des Aktienmarkts
Saisonal auffällige Bewegungen sind nicht nur an den Aktienbörsen, sondern auch an den Bond- und Warenterminmärkten zu beobachten.
Die Landesbank Baden-Württemberg etwa berichtet von Saisonmustern am Euro-Rentenmarkt. Demnach zählt der Mai zusammen mit dem Juni seit 1999 zu den schwächsten Rentenmonaten. In dieser Zeit sind die Notierungen in den vergangenen 16 Jahren im Schnitt trotz des Niedrigzinsumfelds gefallen, während es in den Monaten danach bis Jahresende wieder aufwärts ging. Ein Muster, das sich 2016 laut Analyst Elmar Völker wiederholen könnte. Zumindest spreche dafür unter anderem ein sich für die kommenden Wochen abzeichnender Angebotsüberhang.
Der Rohstoffbereich ist nach Berechnungen von S&P Dow Jones während der Sommermonate der schwächste Sektor des US-Aktienmarkts (siehe Tabelle Seite 14). Das bestätigen auch die Analysten der UBS mit Blick auf den MSCI Metals & Mining-Aktienindex: Seit 1998 lief dieser in elf von 18 Fällen im Zeitraum von September bis April besser als von Mai bis August. Besonders auffällig war in dieser Zeitspanne aber etwas anderes: Nach zuvor zum Teil sehr deutlichen Gewinnen von September bis April sind in sechs Fällen die Kurse von Mai bis August gefallen. Beim Ölpreis war in der Vergangenheit eine Stärke im August und September zu beobachten. Möglicherweise hat das mit Käufen für den Winter in der westlichen Welt zu tun. Im November und Dezember dagegen gaben die Notierungen häufig nach. Beim Goldpreis hingegen geht es häufig in der zweiten Jahreshälfte bergauf. Als Erklärungsversuch dienen hier Käufe aus der Schmuckindustrie, die sich fürs Weihnachtsgeschäft eindeckt. Auch die Heiratssaison in Indien (September bis Dezember) kommt dann auf Touren. Gold ist auf dem Subkontinent die gängige Mitgift für die Braut.
Am Devisenmarkt sind ebenfalls typische jahreszeitliche Verschiebungen zu beobachten: Im Dezember neigt der Euro gegenüber dem Dollar oft zur Stärke, was dann im Januar von einer auffälligen Schwäche abgelöst wird. Als möglichen Erklärungsansatz führt Dimitri Speck, Betreiber der Internetseite www.seasonalcharts.de, Kapitalverschiebungen rund um Steuer- und Bilanzstichtage an.
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Auf Seite 6: Interview mit Jeffrey A. Hirsch
"Saisonale Kursmuster gelten nicht bis in alle Ewigkeit"
Jeffrey A. Hirsch, Herausgeber des Stock Trader’s Almanac, geht in seiner Publikation saisonalen und historischen Kurstrends nach. In den USA macht ihn diese Expertise zu einem gefragten Experten rund um das Thema "Sell in May".
Börse Online: Herr Hirsch, Sie haben viel Erfahrung mit saisonalen Kursmustern. Wie erklären Sie die häufig auftretende Sommerschwäche?
Jeffrey Hirsch:
Die Schwäche von Mai bis September hat mit den in dieser Zeit nachlassenden Geschäftsaktivitäten zu tun. Früher zogen sich beispielsweise Londoner Aristokraten, Geschäftsleute und Banker Mitte Mai aufs Land zurück und blieben dort bis Mitte September. In den USA legen die an der Wall Street Beschäftigten lange Wochenenden an den stadtnahen Stränden ein, die Europäer neigen dazu, im Juli und im August lange Urlaube zu machen. Dieses bemerkenswerte Kursphänomen beruht somit auf Mustern der Verhaltensökonomie und einem kollektiven kulturellen Verhalten der Investmentgemeinde.Was sagen Ihre historischen Daten?
Als Strategie handelbar wurde das aus meiner Sicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Denn früher, von 1901 bis 1950, als die US-Wirtschaft noch von der Landwirtschaft dominiert wurde, waren August und Juli mit Zuwächsen von im Schnitt 2,3 Prozent und 1,5 Prozent sogar die besten Monate. Zudem war der Juni mit plus 0,9 Prozent der viertbeste Monat. Der Grund dafür ist ganz einfach: Durch das Pflanzen, Säen und Ernten kam Geld in Bewegung. Durch die Industrialisierung geht es heute im Sommer mehr ums Entspannen. An die Veränderungen in der Wirtschaft und im Leben der Menschen haben sich die Aktienmärkte angepasst.
Wie sehr beeinflussen saisonale und historische Kursmuster Ihre Strategie?
In unserer Analyse und Strategie nehmen sie einen breiten Raum ein, aber sie sind sicherlich nicht die einzigen Komponenten. Sie dienen als Rüstzeug und als Leitfaden, aber Dinge laufen selten exakt so wie in der Vergangenheit ab. Hinzu kommen die Charttechnik, Marktindikatoren, Fundamentales, Anlegerstimmung, Geo- und Geldpolitik oder alles andere, was gerade die Märkte beeinflusst.
Worauf sollte man besonders achten?
Am wichtigsten ist es, Veränderungen zu erkennen. So hat sich - wie skizziert - die Performance in den Sommermonaten seit 1950 gewandelt. Der Oktober ist zu einem wichtigen Turnaround-Monat geworden. Unterstellen Sie aber keinen Fortbestand bestimmter Kursmuster bis in alle Ewigkeit. Halten Sie Ausschau nach Ereignissen oder kulturellen Paradigmenwechseln, die neue Kursmuster nach sich ziehen können.
Was raten Sie konkret für 2016?
In diesem Jahr dürften Anleger im schwachen Börsenhalbjahr Mai bis Oktober mit einer defensiven Strategie am besten fahren. Dem Spruch "Sell in May and go away" müssen sie deshalb nicht zwangsläufig folgen. Unbedingt verkauft werden sollten aber schlecht laufende Titel und Verlierer. An Gewinnerpositionen sollte wie immer festgehalten werden, solange sie sich weiter gut entwickeln. Man kann auch die Aktiengewichtung senken und erwägen, schwache oder überbewertete Aktien sowie saisonal oft schlecht laufende Sektoren wie Finanzwerte oder Rohstoffe leerzuverkaufen.