BÖRSE-ONLINE.de: Das Börsenjahr 2021 stand ganz im Zeichen von Corona, der Bundestagswahl, Inflation, Lieferengpässen und DAX-Rekorden. Wie haben Sie das abgelaufene Jahr erlebt?
Jörg Krämer: Das Jahr war ein Wechselbad der Gefühle. Ich war enttäuscht, dass die Impfkampagne wegen der verspäteten Bestellung der Impfstoffe durch die EU-Kommission nur zögerlich in Gang kam. Das hat den Lockdown unnötig verzögert und vor allem bei den vielen Dienstleistungsunternehmen große wirtschaftliche Schäden angerichtet. Dagegen war es toll zu erleben, wie kräftig sich die Wirtschaft nach dem Abebben der Pandemie im Sommer erholt hat.
Zuletzt hat sich die Pandemie wieder zugespitzt. Welche Auswirkungen hat das auf die deutsche Wirtschaft und wie stark schlägt das weiter auf die Preise durch?
Die erneute Zuspitzung der Pandemie könnte die deutsche Wirtschaft im Winterhalbjahr etwas schrumpfen lassen. Die Pandemie sorgt auch für Lieferengpässe, die die Vorprodukte verteuern, was die Unternehmen an die Konsumenten weiterleiten.
Ist der gegenwärtige Inflationsschub vorübergehend oder länger andauernd?
Die Inflation dürfte nach der Jahreswende wieder sinken. So wird der Wiederanstieg der Mehrwertsteuer die Inflation nicht mehr erhöhen. Außerdem dürfte der Ölpreis 2022 anders als 2021 kaum noch steigen. Und schließlich wird sich im weiteren Verlauf des Jahres der Materialmangel entspannen. Allerdings dürfte der für 2022 erwartete Rückgang der Inflation vorübergehend sein. Denn wegen der lockeren Geldpolitik der EZB gelangt weiterhin zu viel Geld in die Wirtschaft. 2023 dürfte die Inflation wieder anziehen. Die Inflation ist gekommen, um zu bleiben.
Droht der deutschen Wirtschaft im Winterhalbjahr erneut eine Rezession?
Es ist gut möglich, dass die deutsche Wirtschaft im Winterhalbjahr erneut etwas schrumpft. Denn Corona sorgt für einen Einbruch bei Hotels, Restaurants und anderen Dienstleistern. Außerdem wird die Industrie weiter unter dem Materialmangel leiden.
Vor allem der Chipmangel und die allgemeinen Lieferengpässe haben das abgelaufene Jahr belastet. Welche Unsicherheiten erwarten die Aktienmärkte im neuen Jahr?
In den USA ist die Inflation so hoch wie zuletzt im Juni 1982. Die USA haben ein echtes Inflationsproblem. Die US-Notenbank dürfte im Frühjahr beginnen, die Leitzinsen anzuheben. Ich rechne mit einem Zinserhöhungszyklus. Das stellt natürlich ein Risiko für die hochbewerteten US-Aktienmärkte dar.
Lieferengpässe waren 2021 ein allgegenwärtiges Thema. In ersten Bereichen ist eine leichte Erholung zu spüren. Wie geht es weiter?
Bei Industriemetallen, Zwischenprodukten wie Holz oder Halbleitern sowie bei Transportdienstleistungen sehen wir eine leichte Entspannung. Aber immer noch klagen 82 Prozent der deutschen Unternehmen darüber, dass der Materialmangel ihre Produktion behindert. Das Problem dürfte uns mindestens bis zur Jahresmitte begleiten.
Die US-Notenbank Fed hat bereits seit längerem eine Zinswende auf ihrer Agenda stehen. Welche Schritte erwarten Sie als nächstes?
Die US-Notenbank dürfte ihre Anleihenkäufe im März einstellen und im Frühjahr zum ersten Mal ihren Leitzins anheben. Die hohe Inflation lässt ihr keine andere Wahl.
Wegen der Inflation müsste die EZB eigentlich eine restriktivere Geldpolitik fahren, will aber gleichzeitig die Konjunktur nicht ausbremsen. Wie wird die EZB weiter vorgehen?
Anders als die US-Notenbank dürfte die EZB ihre lockere Geldpolitik 2022 weitgehend unverändert fortsetzen. Die vielen Anhänger einer lockeren Geldpolitik im EZB-Rat schielen leider immer auf die hochverschuldeten Länder im Süden der Währungsunion - besonders auf Italien.
Der Leitzins verharrt auf einem Rekordtief. Kann die EZB ihre lockere Geldpolitik überhaupt noch anziehen?
Klar könnte sie. Aber dann müsste sie auf Kollisionskurs zu den Finanzministern der hoch verschuldeten Länder gehen. Das wird sie nicht wagen.
Die Fed startet die Zinswende und zieht die Geldpolitik an. Die EZB bleibt bei ihrem lockeren geldpolitischen Kurs. Die Notenbanken driften weiter auseinander - welche Folgen hat das?
Das entschiedenere Vorgehen der US-Notenbank spricht für einen stärkeren Dollar. Der Euro dürfte 2022 tendenziell gegenüber dem Dollar abwerten.
Mit den jüngsten Gesprächen zwischen US-Präsident Joe Biden und Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping zeichnet sich eine erste Entspannung im Streit zwischen den beiden Handelsmächten ab. Welche Chancen sehen Sie für eine künftige Zusammenarbeit?
Atmosphärische Verbesserungen sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen China und den USA ein tiefgreifender Konflikt besteht. Die USA wollen ihre etablierte Vormachtstellung gegenüber dem aufsteigenden China verteidigen. Dieser Konflikt wird uns noch lange begleiten. Das wird den Handel zwischen dem Westen und China belasten.
Könnten deutsche Exportfirmen von einer Entschärfung des Konflikts profitieren?
Natürlich könnten sie von einer Entspannung profitieren. Aber ich befürchte, dass sich die Europäer irgendwann entscheiden müssen, auf welcher Seite sie in dem Konflikt zwischen den USA und China stehen.
Kürzlich wurde das 550 Milliarden US-Dollar schwere Infrastrukturprogramm von Präsident Biden durch den Kongress genehmigt. Was bedeutet das für die USA und auch weltweit?
Wenn es gut läuft, verbessern die USA ihre Infrastruktur. Aber man sollte staatliche Programme nie überbewerten.
Das Vereinigte Königreich ist Anfang 2020 aus der Europäischen Union ausgetreten. In den vergangenen zwei Jahren hat sich viel getan. Wie schätzen Sie die aktuelle Beziehung ein und wie geht es weiter?
Es gibt so viele Konflikte auf der Welt. Da brauchen Großbritannien und die EU keinen weiteren. Beide Seiten sind gar nicht so weit voneinander entfernt und dürften sich mit der Zeit arrangieren.
Wie sollten sich Anleger in einem inflationären Umfeld positionieren?
Die EZB wird alles tun, dass die höheren US-Zinsen nicht auf den Euroraum überschwappen. Damit bleibt es im Euroraum 2022 bei einem Niedrigzinsumfeld. Anleger werden weiter verzweifelt nach Erträgen suchen und auf Immobilien und Aktien ausweichen. Die Vermögenspreisinflation ist wohl noch nicht vorüber.
Mit welchem DAX-Stand rechnen Sie Ende 2022?
Wir erwarten noch einmal ein gutes Aktienjahr, unser Jahresendziel beträgt 17.200. Dabei könnte es zu einem ähnlichen Muster wie in diesem Jahr kommen, nämlich zu einem starken ersten Halbjahr, das von der Aussicht auf ein Abebben der Pandemie profitiert, und einer volatileren zweiten Jahreshälfte, wenn die US-Notenbank die Leitzinsen erhöht.