Sollte die EU ihren Ansatz in den Verhandlungen nicht noch grundlegend ändern, werde es einen Brexit ohne Handelsabkommen geben. Die EU verhandele nicht ernsthaft. Sein Land müsse sich deswegen ab Januar 2021 auf eine neue Situation einstellen.

Es werde wohl auf eine Situation wie in den Handelsbeziehungen zu Australien hinauslaufen, sagte Johnson gegenüber Journalisten in London. Diese sind auf einfache Grundprinzipien für den gegenseitigen Warenaustausch beschränkt, deutlich weniger detailliert als es der EU vorschwebt. Johnson sagte, Großbritannien solle dies nicht scheuen, sondern mit großer Zuversicht angehen.

Ende des Jahres läuft die Übergangszeit aus, in der Großbritannien noch EU-Regeln anwendet. Über die künftigen Beziehungen zur Europäischen Union wird momentan verhandelt, bislang aber ohne Ergebnis. Johnson hatte hier zuletzt eine Frist bis zum 15. Oktober für eine Einigung gesetzt.

"Es ist alles nur Rhetorik", sagte ein Diplomat der Nachrichtenagentur Reuters. Johnson habe nicht gesagt, dass es keine weiteren Gespräche geben werde. Das betonte auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: Die EU arbeite weiter für ein Abkommen, allerdings nicht um jeden Preis. Nächste Woche werde es in London dazu Verhandlungen geben.

Am Kapitalmarkt gab das britische Pfund nach. Die Währung fiel um 0,4 Prozent auf 1,2861 Dollar.

MERKEL FORDERT FLEXIBILITÄT AUF BEIDEN SEITEN


Großbritanniens Außenminister Dominic Raab hatte am Freitagmorgen Sky News gesagt, er sei enttäuscht von der EU. "Uns wurde gesagt, dass es das Vereinigte Königreich in den nächsten Tagen sein muss, das alle Kompromisse macht." Das könne es in Verhandlungen nicht sein. Trotzdem hält er eine Einigung noch für möglich. Es gebe eigentlich nur zwei strittige Punkte, ansonsten seien sich beide Seiten nahe, sagte er der BBC. "Ein Deal sollte also möglich sein, das setzt aber guten Willen auf beiden Seiten voraus." Umstritten sind unter anderem noch, wie viele Fische EU-Länder in britischen Gewässern fangen dürfen. Außerdem will Brüssel unbedingt gleiche Wettbewerbsbedingungen für britische und europäische Firmen durchsetzen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel mahnte Kompromisse an. "Jeder hat seine roten Linien", sagte sie am Donnerstagabend nach dem ersten Tag des EU-Gipfels in Brüssel. "Wir haben Großbritannien gebeten, im Sinne eines Abkommens weiter kompromissbereit zu sein. Das schließt ein, dass auch wir Kompromisse machen müssen." Die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Länder erklärten sich bereit, noch einige Wochen über ein Handelsabkommen verhandeln zu wollen. Sie beschlossen aber auch, sich verstärkt auf ein No-Deal-Szenario vorzubereiten.

Britische Firmen würden einer Studie des Münchner Ifo-Instituts zufolge besonders stark unter einem harten Brexit leiden. Der Grund sei, dass sie viele Zwischenprodukte aus der EU importierten, die von wenigen Zulieferern bezogen werden. "Die aktuelle Covid-19-Krise hat gezeigt, wie wichtig die Diversifizierung von Lieferketten ist, um die negativen Auswirkungen unerwarteter Lieferschocks abzuschwächen", so Ifo-Außenwirtschaftsexpertin Lisandra Flach. Die Studie belege die Dringlichkeit eines Handelsabkommens, das die Unsicherheit und damit auch die Kosten für die Beteiligten verringere. Ein Blick auf Deutschlands Handelsbeziehungen zeige, dass auch die hiesige Wirtschaft vom Brexit stark betroffen wäre.

Der Kieler Wirtschaftsforscher Gabriel Felbermayr sagte dagegen, es sei davon auszugehen, dass unter einem harten Brexit nur ausgewählte Branchen wie die Autoindustrie leiden würden, deren Produkte mit Einfuhrzöllen belegt würden. Bei vielen anderen Gütern werde Johnson dagegen wohl auf Zölle verzichten und keine neuen Handelsbarrieren aufbauen. "Wie schlimm der Brexit wird, hängt maßgeblich davon ab, wie London ihn interpretiert", so Felbermayr.

In einer Studie der US-Investmentbank Goldman Sachs hieß es, das wahrscheinlichste Szenario sei noch etwas Brexit-Drama im Oktober. Anfang November sollte es dann eine Einigung auf ein Grundgerüst für ein Handelsabkommen geben.

rtr