Alibaba wird oft als das Amazon Chinas bezeichnet, und in Bezug auf die Dominanz des Online-Einzelhandels ist es das auch. Die Geschäftsmodelle der beiden Unternehmen sind jedoch sehr unterschiedlich. Worin unterscheiden sie sich? Erstens: die Positionierung. Während Amazon versucht, den Großteil seiner Produkte direkt an den Verbraucher zu verkaufen und mit anderen kleineren Marken zu konkurrieren, fungiert Alibaba lediglich als Plattform, die Händler und Verbraucher sowie größere Marken und Einzelhändler miteinander verbindet. Wie Jack Ma, der Gründer von Alibaba, erklärt: "Der Unterschied zwischen Amazon und uns ist, Amazon ist mehr wie ein Imperium. Sie kontrollieren alles selbst - kaufen und verkaufen. Wir wollen aber ein Ökosystem sein."
Auch die Modellmonetarisierung ist sehr unterschiedlich. Amazons Direktvertrieb entspricht einem Online-Supermarkt: Buy Low, Sell High. Die Verkäufe über die Amazon-Plattform werden dann mit einer prozentualen Verkaufsprovision abgerechnet. Im Gegensatz dazu verwendet Taobao (einer der wichtigsten Vermögenswerte von Alibaba) ein Werbemodell, das eher Google ähnelt. Im Kern geht es darum, seine sieben Millionen aktiven Verkäufer gewinnbringend zu nutzen. Anders als im Westen, wo das Onlineshopping-Erlebnis in Bezug auf die Suchseite (z. B. Google), die E-Commerce-Seite (z. B. Amazon) und die Zahlungsplattform (z. B. Paypal) getrennt ist, deckt Alibaba das gesamte Onlineshopping-Erlebnis ab. Infolgedessen gehen Alibabas User-Engagement-Metriken weit über die von Amazon hinaus. Der dritte Unterschied besteht in der Art und Weise, wie das jeweilige Unternehmen seine Möglichkeiten auf dem Markt der Alltagsgüter, ein Schwerpunkt bei beiden Unternehmen, skaliert. Dieser Sektor zeichnet sich durch niedrige Einzelstückpreise aus und ist aufgrund hoher Frequenz, geringerer Zyklizität und starker Kundenbindung eine attraktive Gewinnquelle.
Amazon deckt mit AmazonFresh und seiner eigenen Marke "AmazonBasics" den Vertrieb einfacher Waren von Batterien bis hin zu Katzenstreu ab. Alibaba geht einen anderen Weg. Da der Anteil des Onlinehandels in China mit rund 15 Prozent bereits doppelt so hoch ist wie in den USA, strebt man ein neues Einzelhandelsmodell an. Dies zeigt die digitale Transformation der restlichen 85 Prozent des offline getätigten Einzelhandels. So hat Alibaba seine Hema Stores, eine Kette von bisher 20 Geschäften in China, die darauf abzielen, Kunden zu bedienen, die in einem Umkreis von drei Kilometern um die Filiale wohnen. Mit der Alibaba-App können die Nutzer entweder frische Lebensmittel für die Lieferung nach Hause bestellen oder selbst in den Laden gehen - ein sehr erfolgreiches Modell, das Alibaba in Zukunft in ganz China auslizenzieren möchte.
Allmählich zeigt sich, welche Auswirkung die gegensätzlichen Geschäftsmodelle haben - zumeist fällt der Vergleich zugunsten von Alibaba aus. Die E-Commerce-Aktivitäten des Unternehmens haben eine deutlich höhere operative Marge und die Infrastruktur ist leichter aufrechtzuerhalten. Darüber hinaus hängen die Verkäufe von Alibaba im Vergleich zu Amazon weitaus weniger vom Wachstum des Bruttowarenwerts der Website ab.
Letztlich bedienen Amazon und Alibaba den gleichen Markt und verfolgen ähnliche Ziele, unterscheiden sich aber grundlegend in ihrem Ansatz beim Onlinehandel. Historisch gesehen, haben beide Firmen gut daran getan, sich von der direkten Konfrontation fernzuhalten. Aber da der Pool an unterversorgten, strukturell attraktiven E-Commerce-Gelegenheiten rasch schrumpft, ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Modelle aufeinanderprallen. Für Investoren stellt sich dann nicht mehr nur die Frage, ob sie diese Unternehmen halten sollen oder nicht, sondern auch, wie sich andere Portfoliogesellschaften an eine sich schnell verändernde wirtschaftliche Landschaft anpassen.
Charles Sunnucks
Sunnucks ist Assistant Fund Manager im Emerging-Markets-Team von Jupiter Asset Management. Der börsennotierte Investmentmanager mit Boutique-ähnlichem Anlagestil und Sitz in London wurde 1985 gegründet und verwaltet aktuell rund 56,5 Milliarden Euro. Für Investoren außerhalb Großbritanniens bietet Jupiter 22 Teilfonds, welche in zahlreichen europäischen Ländern zum öffentlichen Vertrieb zugelassen sind.