Kiran Mazumdar-Shaw ist die Grande Dame der Börse in Mumbai, eine in ganz Indien gefeierte Ikone. Ihr Start-up Biocon legte einst mit einem Papaya-Enzym los und ist heute ein Biotech Riese. Von Michael Braun Alexander
Sagen wir mal so: Die Ausgangssituation ist nicht ideal für den Aufbau eines Vermögens. Da ist eine Akademikerin Mitte 20 aus einer im westindischen Bundesstaat Gujarat verwurzelten Familie - clever, patent, doch ohne schillernde Ausbildung. Sie sucht im konservativen Indien der 1970er-Jahre nach einem Beruf, einer Berufung. Zuletzt hat sie Bierbrauen studiert, ausgerechnet, mit Hochschulabschluss. Heute, mit Ende 60, ist Kiran Mazumdar-Shaw trotz dieser Startschwierigkeit mehr als drei Milliarden Euro schwer.
Zur Schule geht die junge Kiran in Bangalore, mittlerweile eine Zehn-Millionen-Metropole, damals noch mit dem Flair der Provinz, berühmt für mildes Klima, das üppige Grün der Stadtparks. Dort arbeitet ihr Vater Rasendra, der erste Bierbraumeister Indiens, bei United Breweries, dem Abfüller des bekannten "Kingfisher"-Biers. Später gründet er in Eigenregie eine Mälzerei in Baroda (heute Vadodara), die aber floppt. Für seine einzige Tochter hat Vater Mazumdar kühne, unkonventionelle Pläne. Eine arrangierte Ehe, wie damals (und in weiten Teilen Indiens noch heute) üblich, kommt nicht infrage. Sein Mädchen soll einfach mal ihr Ding machen, die Welt sehen, lernen.
Kiran will Medizin studieren, Ärztin werden, scheitert aber an der Aufnahmeprüfung. Stattdessen schreibt sie sich in Bangalore für Zoologie ein - und im Anschluss für ein weiterführendes Studium in Sachen Bier an der australischen University of Ballarat. 1975 kehrt sie nach Baroda zurück, wo sie von der Familie am Flughafen abgeholt wird und sich als Erstes keck eine Kippe anzündet. "Als sie nach Australien ging, war sie die Tochter meiner Eltern", sagt ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Ravi später. "Als sie zurückkam, war sie ein komplett anderer Mensch, die Hauptperson der Familie." In Australien habe sie sich "im westlichen Sinne emanzipiert" - gelernt, dass nichts unmöglich sei. Nur sind ihre frisch erworbenen Fähigkeiten als Brauexpertin nicht eben gefragt. Die damaligen Bierbrauer Indiens, allesamt Männer, "wissen" natürlich, dass mit einer Frau in der Produktionsanlage zwangsläufig Chaos ausbrechen müsse. Man lacht schallend über derart kindischen Größenwahn.
In dieser Gemengelage wird der aus Irland stammende Leslie "Les" Auchincloss auf sie aufmerksam, ein zwei Jahrzehnte älterer Serial Entrepreneur, ein Hansdampf in allen Gassen. Er schreibt keine der spektakulären IT-Erfolgsgeschichten, die im 21. Jahrhundert für jeden ein Begriff sind, sondern ist mit deftigeren Geschäftsideen unterwegs. Tonnenweise enthäutete Nerzkadaver? Fischblasen aus Venezuela? Na klar, bei so was wittert er Riesenchancen. Nur her damit, ist gekauft, wird verarbeitet!
Eine der vielen Auchincloss-Firmen ist Biocon Biochemicals im irischen Cork, die in Getreide-Enzyme macht und in Indien Fuß fassen will. Nur bremst der sozialistische Bürokratiewahn jener Zeit Indiens Wirtschaft aus. Für alles und jedes sind Lizenzen und Genehmigungen vom Staat erforderlich; erst recht für jeden Wagemutigen, der in der planwirtschaftlich auf der Stelle tretenden Republik sein eigenes Unternehmen gründen will.
Ausländische Investoren dürfen in den 1970er-Jahren höchstens 30 Prozent der Anteile einer Firma halten. Auchincloss braucht einen Partner. Oder eine Partnerin. Am 25. März 1978 ist Kiran auf dem Sprung nach Schottland, wo sie bei einer Mälzerei anfangen will, als Auchincloss sie telefonisch in Baroda um ein persönliches Kennenlernen bittet. Sie sagt zu. Sein Eindruck von der damals 25-Jährigen: "eine fantastische, enthusiastische, in den Hintern tretende Frau, aggressiv, fordernd - und eine großartige Partnerin für Biocon". Am 29. November 1978 wird Biocon India gegründet, als Joint Venture eines ungewöhnlichen Duos - in einem Schuppen mit Blechdach in Koramangala.
Start, Hochzeit, Börsengang
Anfangs dreht sich bei Biocon India alles um Enzyme für die Braubranche, auch für United Breweries, wo Vater Mazumdar seine Kontakte spielen lässt. Ein wichtiger Umsatzbringer ist Papain, ein vielseitig verwendbares Enzym der tropischen Papayafrucht, gern genommen zum Beispiel als Zartmacher von Fleisch. Ein zweiter ist der Rohstoff Isinglass: getrocknete, gereinigte Schwimmblasen von Fischen, die dank ihres Kollagengehalts bei der Klärung von Bier zum Einsatz kommen. Später sind Pektinasen im Angebot, die bei der Produktion von Fruchtsaft die Saftausbeute erhöhen. Die US-Agrargenossenschaft Ocean Spray, führend bei Cranberries, wird ebenso zum wichtigen Kunden wie Unilever. Der britisch-niederländische Konsumgüterriese ist es auch, der 1989 Biocon Irland übernimmt - und indirekt damit ein Mitspracherecht bei Biocon India erhält, Einfluss, Macht. Es droht die Übernahme.
Geregelt wird diese Problemkonstellation 1998, für die Unternehmerin in doppelter Hinsicht ein Schlüsseljahr. Zum einen heiratet sie den vier Jahre älteren Schotten John Shaw, der als Ex-Manager in der Textilbranche mit Geschäftsführung vertraut ist. Zum anderen kauft sich das Ehepaar bei Unilever raus und hat fortan das alleinige Sagen. John Shaw sitzt noch heute im Aufsichtsrat, aber nur als "Support System", wie er sagt, als Unterstützer. Die Firma expandiert, wird unter anderem zu einem Großproduzenten von Insulin. Als Biocon im April 2004 in Mumbai den Sprung an die Börse wagt, ist die Aktie 33-fach überzeichnet und verbucht am Ende des ersten Handelstags ein Kursplus von 52 Prozent. Die Marktkapitalisierung liegt auf einen Schlag bei mehr als einer Milliarde US-Dollar - ein sensationelles Debüt.
Nach dem Börsengang reifen Firma und Firmenlenkerin zu Ikonen der indischen Börsenlandschaft. 2007 trennt Biocon sich vom anfangs so erfolgreichen Enzym-Business. Heute sind Nachahmerprodukte am wichtigsten, zum einen relativ einfach zu produzierende Generika (Pharmamedikamente mit abgelaufenem Patentschutz), zum anderen anspruchsvolle Biosimilars (Biotech-Produkte), daneben Eigenentwicklungen. 2015 geht die Tochter Syngene erfolgreich an die Börse, ein Dienstleister rund um Forschung und Entwicklung im Gesundheitsbereich.
Das Ehepaar Mazumdar-Shaw, kinderlos geblieben, residiert in Bangalore in einer Villa im spanischen Stil. Die Unternehmerin liebt farbenfrohe Outfits, Kunst, das Reisen. Auch Bier mag sie immer noch - so sehr, dass sie neben ihrem Hauptberuf als Biocon-Chefin ein launiges Buch mit dem Titel "Ale & Arty: The Story of Beer" herausgebracht hat. Immerhin fing mit ihrer Lust auf Gerstensaft einst alles an.