Jüngstes Beispiel sei GameStop, sagt Analyst Jochen Stanzl vom Online-Broker CMC Markets. Mit einem gezielten Kaufansturm wollten die Kleinanleger diejenigen, die in großem Stil auf einen Kursverfall der Aktie gesetzt hatten, in die Ecke treiben. In kleinerem Maßstab stecke dies auch hinter den jüngsten Kursgewinnen des Batterie-Herstellers Varta, sagen Börsianer. Die jüngste Rally bei der deutschen Biotechfirma Evotec, dem finnischen Netzwerk-Ausrüster Nokia, dem britischen Fachverlag Pearson sowie den Kinoketten Cineworld und AMC gehe ebenfalls auf das Konto von solchen Verabredungen in Internetforen.
Die Papiere des Videospiele-Händlers GameStop hatten in den vergangenen Tagen mehrfach mit Kurssprüngen von 100 Prozent und mehr für Furore gesorgt. In den vergangenen beiden Wochen hat sich der Kurs mehr als versiebzehnfacht. "Zahlreiche Anleger hatten auf einen Kursrückgang gesetzt, als es zu einem heißen Thema in Sozialen Medien wurde", sagt Jaske Wujastyk, Chef-Marktanalyst für TrendSpider, einem Anbieter von Analyse-Software für Investoren. Der anschließende Kursanstieg habe sie auf dem falschen Fuß erwischt. Sie hätten dann diese Wetten auflösen müssen, um ihre Verluste zu minimieren. Im Fachjargon spricht man von einem "Short Squeeze".
LACHNUMMER STATT "MASTERS OF THE UNIVERSE"
"Es ist urkomisch, dass Kleinanleger die Wall Street und erfahrene institutionelle Anleger zum Gespött machen", sagt Rob Paone, Gründer des Personalvermittlers Proof of Talent, der auf Berufe in der Kryptowährungs- und Blockchain-Industrie spezialisiert ist. Art Hogan, Chef-Anlagestratege des Vermögensverwalters National Securities, äußert sich ähnlich. "Man weiß, dass es nicht gut ausgehen wird. Aber während es passiert, sitzen die Leute da und schauen fasziniert zu."
Gleichzeitig kursierten im Internet sogenannte "Memes", in denen sich Kleinanleger beispielsweise mit Fotomontagen über die Verluste institutioneller Investoren lustig machen. Denn "Otto Normalanleger" wird von Börsenprofis, die sich selbst gelegentlich als "Masters of the Universe" bezeichnen, meist als "Dummes Geld" geschmäht.
HEDGEFONDS VERBRENNEN SICH DIE FINGER
Fast hätten die Kleinanleger mit ihrer Aktion im Stil von Robin Hood die vermutlich größte Hegdefonds-Pleite seit Ende der 1990er Jahre ausgelöst, sagt CMC-Experte Stanzl. Die Hedgefonds Citadel und Point72 mussten Melvin Capital zum Wochenstart mit 2,75 Milliarden Dollar unter die Arme greifen, um einen Zusammenbruch des Konkurrenten zu verhindern.
Auch Citron verbrannte sich die Finger. Der Shortseller hatte vergangene Woche Zweifel am Geschäftsmodell des durch die Pandemie ins Trudeln geratenen Videospiele-Händlers geäußert und einen raschen Rückfall des Kurses auf 20 Dollar prophezeit. Sowohl Melvin als auch Citron haben nach eigenen Angaben ihre Wetten auf GameStop-Titel inzwischen aufgelöst und das eingesetzte Geld komplett verloren. Der Analysefirma S3 Partners zufolge summieren sich die seit Jahresbeginn aufgelaufenen Verluste allein aus Wetten auf einen Verfall der GameStop-Papiere auf fünf Milliarden Dollar.
"Alle Hedgefonds werden sich entsprechende Positionen genau anschauen und entscheiden, ob sie es wirklich wert sind", sagt Neil Wilson, Chef-Analyst des Online-Brokers Markets.com. Schließlich könnten bei Wetten auf den Verfall einer Aktie die Verluste theoretisch ins Unendliche steigen.
VERKAUFEN, WAS MAN GAR NICHT BESITZT
Um auf den Verfall einer Aktie zu spekulieren, leihen sich Investoren zunächst diese Papiere, um sie sofort zu verkaufen. Fällt der Kurs, können sie sich kurz vor dem Rückgabetermin billiger mit den Anteilsscheinen eindecken. Die Differenz streichen sie als Gewinn ein. Solche Geschäfte heißen "Leerverkäufe" oder "Short Selling".
Bei ihrem Sturm auf die Short Seller nutzen Kleinanleger offenbar bevorzugt die Internet-Plattform Reddit. Einer Reuters-Auswertung zufolge drehten sich zuletzt rund ein Viertel aller Einträge in den wichtigen Börsenforen dort um GameStop. Im November lag die Quote bei lediglich einem Prozent. Parallel dazu waren sämtliche für Leerverkäufe verfügbaren Aktien des Videospiele-Händlers für derartige Geschäfte eingesetzt, rechnet die Analysefirma FIS Astec vor.
rtr