Während sich im Westen Verbraucher und Industrie über niedrige Energiekosten freuen können, ächzt Russlands Wirtschaft unter dem Ausbleiben der Petrodollars. Rund 40 Prozent der Einnahmen des russischen Staates stammen aus dem Export von Rohöl. Im Haushaltsplan für 2014 rechnet die Regierung in Moskau mit einem durchschnittlichen Preis von 104 Dollar je Fass. Ein Rückgang des Ölpreises um zehn Dollar kostet Moskau nach Angaben von Sergei Aleksashenk, ehemals Zentralbankgouverneur, 700 Milliarden Rubel (umgerechnet etwa 20 Milliarden Dollar) oder fünf Prozent der jährliche Budget-Einnahmen. Kein Wunder also, dass der Kreml die Ölpreisentwicklung mit Argusaugen verfolgt. Ein Preis unter 100 Dollar dürfte in Moskau die Alarmglocken schrillen lassen, erklären Experten. "Sollte der Preis gar auf 75 Dollar fallen und dort für ein paar Jahre verharren, werden wir in Russland einen Machtwechsel sehen", sagt ein russischer Ökonom, der nicht namentlich zitiert werden möchte.
Von solchen Preisen ist der Ölmarkt aber noch weit entfernt. Selbst wenn der Ölpreis auf 90 Dollar falle, liege der Durchschnitt immer noch bei 105 Dollar, rechnet Wladimir Kolychew vor, Chefökonom bei VTB Capital in Moskau.
auf Seite 2: Auch Opec-Länder an höherem Ölpreis interessiert
AUCH OPEC-LÄNDER AN HÖHEREM ÖLPREIS INTERESSIERT
Moskau steht mit seinem Interesse an einem höheren Ölpreis nicht alleine: Auch die Mitglieder des Opec-Kartells sind auf die Einnahmen aus dem Ölgeschäft angewiesen. Im vergangenen Jahr reichten die Einnahmen gerade so, um die Ausgaben zu decken. Der durchschnittliche Ölpreis lag bei 106 Dollar je Barrel, wie eine Gruppe von Experten in London ausgerechnet hat. Aber die Opec gibt sich derzeit gelassen. "Kein Grund zur Sorge", winkt ein Delegierter dieser Tage bei einer Opec-Konferenz ab. "Das ist nur eine Korrektur, und der Preis ist für die Produzenten derzeit noch fair." Wie in Russland wollen aber auch die arabischen Ölmanager den Preis über 100 Dollar halten.
Dabei setzen die arabischen Produzenten auf einen kalten Winter in der westlichen Hemisphäre. "Dass der Preis derzeit fällt, liegt auch an der Jahreszeit", erklärt einer. "Im Herbst wird die Nachfrage anziehen." Längerfristig werde daher ein Fass Öl nicht weniger als 100 Dollar kosten. Notfalls dürfte das Kartell nachhelfen: Schließlich könnten Saudi-Arabien, Kuwait und die Vereinigten Arabischen Emirate sich rasch auf einer geringere Fördermenge einigen.
auf Seite 3: Gründe für die Ölschwemme gibt es viele
GRÜNDE FÜR DIE ÖLSCHWEMME GIBT ES VIELE
Vor allem diesen drei Ländern trauen Experten zu, die nun wieder aus Libyen auf den Weltmarkt fließenden Ölbestände zu neutralisieren. Denn als ein Grund für das Überangebot gilt nach Einschätzung von Ole Hansen, Rohstoffexperte bei der Saxo Bank, die Wiederinbetriebnahme der großen Exportterminals in Libyen. "Das zurückkehrende Ölangebot aus Libyen trifft auf einen Markt, welcher bereits reichlich mit Öl versorgt ist", stimmt Commerzbank-Analyst Carsten Fritsch zu.
Doch als einer der wichtigsten Gründe für das Überangebot gilt der Ölrausch in den USA. Im Juli war nach Angaben des US-Energieministeriums die Förderung mit 8,5 Millionen Barrel täglich so hoch wie zuletzt im April 1987. Und das Ministerium rechnet mit noch mehr Öl: Im nächsten Jahr dürfte die Förderung auf 9,3 Millionen Fässer täglich steigen - das wäre so viel, wie zuletzt im Schnitt 1972 produziert wurde.
auf Seite 4: Einige Analysten trauen der Entwicklung nicht
EINIGE ANALYSTEN TRAUEN DER ENTWICKLUNG NICHT
Und auch der nördliche Nachbar Kanada hat Öl als neue Geldquelle entdeckt: Laut Investec Asset Management verfügt das Land nach Saudi-Arabien und Venezuela über die drittgrößten bekannten Ölvorkommen. Große Teile dieser Vorräte könnten erst jetzt durch neue Fördertechniken rentabel erschlossen werden. "Anders als viele andere unerschlossene Vorkommen liegen die kanadischen Felder in einem westlichen Staat, der politische, steuerliche und soziale Stabilität garantiert", sagt Fondsmanager Charles Whall.
Kein Wunder also, dass die Internationale Energiebehörde IEA trotz aller Krisen in ihrem August-Bericht keine akuten Versorgungsengpässe ausfindig machen kann. Zumal die Nachfrage angesichts der schleppenden Konjunktur weltweit mau ist und laut IEA mau bleibt: Denn für 2015 senkten die Experten im August ihre Nachfrage-Prognose um 90.000 Barrel auf 1,32 Barrel täglich.
Viele Börsianer können diese Gelassenheit aber nicht nachvollziehen. "Nach unserer Überzeugung bildet das momentane Preisniveau die aus den diversen geopolitischen Brandherden herrührenden Gefahren für die physische Rohöl-Versorgungslage nicht adäquat ab", mahnt DZ-Bank-Analyst Axel Herlinghaus. Es mute befremdlich an, wenn der Rohölpreis als Reaktion auf die Gewalteskalation im Gaza-Streifen oder den Abschuss des Malaysian-Airline-Fluges MH-17 über der Ostukraine zu einer ausgedehnten Talfahrt ansetze.
Reuters