Thyssenkrupp, Deutsche Bank und Deutsche Börse - drei Schwergewichte aus dem DAX, auf deren Hauptversammlungen durchaus Kritik an den Aufsichtsräten zu erwarten war. Sie kam wohl zur Sprache, danach aber - wenn auch mit Gegenstimmen - die Entlastung der AR-Vorsitzenden. Dabei sehen wir den Trend, dass sich die Gewichte in der Corporate Governance in Richtung Aufsichtsratsvorsitzender verschieben. Die Kontrolleure mischen sich stärker ins operative Geschäft eines Unternehmens ein, als das vermutlich bei der Konzeption des dreistufigen deutschen Governance-Modells gedacht war. Das wirft die Frage auf, ob die "Checks and Balances", die das deutsche Aktienrecht für das Verhältnis zwischen Vorstand, Aufsichtsrat (AR) und Hauptversammlung (HV) vorsieht, dieser Entwicklung noch gerecht werden. Oder ob es nicht de facto einen Kündigungsschutz für Aufsichtsräte gibt.
Schon richtig: Kapitalmarktexperten wie wir haben lange Zeit beklagt, dass es in Deutschland an einer effektiven Kontrolle des Vorstands fehle. Das hat sich Gott sei Dank geändert - allerdings so sehr, dass wir nun eine Lücke in der Kette der Verantwortlichkeiten befürchten. Dem für die Kontrolle des Aufsichtsrats zuständigen Organ, der Hauptversammlung, ist wegen ihres nur jährlichen Turnus eine effektive Rückkoppelung von strategisch wichtigen Aktivitäten eines AR-Vorsitzenden schon rein praktisch kaum möglich. Und bei der Wahl von AR-Mitgliedern haben Aktionäre zwar ein Vorschlagsrecht, in der Praxis besetzt jedoch der Vorsitzende das Gremium aus seinem "Netzwerk" heraus. So ist zu bezweifeln, dass Aufsichtsräte eine wirksame Kontrolle des Vorsitzenden darstellen könnten. Sicher: die Qualifikation und Zusammensetzung von Aufsichtsräten war in letzter Zeit Gegenstand zahlreicher Gesetze und Kodizes, die mehr Sachverstand und Diversität in das Aufsichtsgremium bringen sollten. Ich bezweifle aber, dass dabei immer die Verbesserung der offenen Debatte und konstruktiven Kritik im Fokus der Regulierung stand.
Was ist zu tun? Sollten wir uns dem Schweizer "One-Tier-System" annähern? Dort trägt der Verwaltungsrat die oberste Verantwortung für den Erfolg und für die Erzielung von nachhaltigem Wert für die Aktionäre und entscheidet - zwar auf Vorschlag des CEO - über die Strategie des Konzerns. Die Aktionäre wählen jährlich jedes Verwaltungsratsmitglied sowie die Mitglieder des Compensation Committee einzeln. Ein solch grundlegender Systemwechsel vom zweistufigen zum einstufigen Governance-Modell ist in Deutschland aber weder zu erwarten noch anzuraten.
Was wir stattdessen fordern, ist eine schrittweise Anpassung des deutschen Aktienrechts an die neue Realität der Machtverschiebung in Richtung Aufsichtsrat. So könnte etwa die Häufigkeit der Zusammenkünfte gesteigert werden. Der nach dem Schweizer Modell verfasste Verwaltungsrat der UBS zum Beispiel hat 2017 23-mal im Plenum getagt, der gesamte AR der Deutschen Bank zehnmal. Auch eine Begrenzung der Amtszeit eines AR-Vorsitzenden sowie die separate Wahl des AR-Vorsitzenden und seines Stellvertreters durch die HV kommen als robuste Maßnahmen im Rahmen des bestehenden Modells infrage.
Und noch ein anderer Trend kommt immer mehr zum Tragen: Das weitere Voranschreiten passiver Investoren, die ihre Stimmrechte nicht aktiv ausüben und sich aus der Strategie der Unternehmen heraushalten. Doch Eigentum schafft Verantwortung. Wenn immer mehr passive Investoren diese Verantwortung nicht wahrnehmen, leidet die Kontrollfunktion der Aktionäre. Vielleicht hilft die neue Aktionärsrechterichtlinie der EU den Trittbrettfahrern auf die Sprünge. Sie verpflichtet institutionelle Investoren ab 2019 zu mehr Transparenz in Bezug auf ihre Anlagestrategien, ihre Mitwirkungspolitik und deren Umsetzung. Dann kann der Endanleger selbst entscheiden, ob er sich von seinem Vermögensverwalter gut vertreten fühlt.
Stefan Bielmeier ist Vorstandsvorsitzender des DVFA e. V., der Standesorganisation aller Investment Professionals in den deutschen Finanz- und Kapitalmärkten. Seine 1400 Mitglieder repräsentieren die Vielfalt des Investment- und Risikomanagements in Deutschland. Der DVFA e. V. engagiert sich für die Professionalisierung des Investment-Berufsstands, er erarbeitet Standards und fördert den Finance-Nachwuchs.