Herr Prof. Sinn, die britische Premierministerin Theresa May hat im erbittert geführten Streit um den EU-Austritt des Landes am späten Mittwoch Abend ein Misstrauensvotum ihrer eigenen Partei überstanden. Hat May damit mehr gewonnen, als nur ein bisschen Zeit?
Sie ist nun in ihrer Partei vorläufig unanfechtbar, weil ein Jahr lang kein anderes parteiinternes Misstrauensvotum zustande kommen kann. Den Brexit-Prozess kann sie nun wohl vorläufig weiter betreuen. Eine Mehrheit für das Rückfallabkommen im Parlament hat sie damit aber noch lange nicht. Das wird vermutlich trotzdem scheitern. Dann droht allerdings ein Misstrauensvotum des Parlaments mit Neuwahlen. Was dann passiert, ist völlig unklar.
Die nächste Probe steht der britischen Premierministerin aber bereits an diesem Donnerstag auf dem EU-Gipfel in Brüssel bevor. Dort will May weitere Zugeständnisse der EU erreichen, um den umstrittenen Deal doch noch durchs Unterhaus zu bekommen. Aber in Brüssel treffen derlei Vorstellungen bislang auf taube Ohren. Ist die EU wirklich gut beraten, beim Brexit-Deal gegenüber London hart zu bleiben?
Teils, teils. Ich würde den Austritt nicht attraktiver machen, wohl aber den Erhalt der Mitgliedschaft. Die einzige Chance, das große europäische Unglück des Brexit noch abzuwenden ist, dass die EU jetzt bei den Konditionen des Austrittsabkommens hart bleibt und das Abkommen im Unterhaus endgültig scheitert.
Warum?
Weil es dann vermutlich zu einer Verschiebung des Austrittstermins und einem Referendum kommen könnte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die EU und Großbritannien sehenden Auges in ihr Unglück rennen. Es wäre jetzt die Aufgabe der deutschen Kanzlerin, eine Koalition für ein attraktives Bleibeangebot für die Briten zu schmieden. Wenn die EU sich selbst reformiert, wie es die Briten wollen, würde sie die EU funktionsfähiger machen und könnte den Brexit verhindern. Angela Merkel könnte mit einem historischen Erfolg in die Geschichtsbücher eingehen. Den würde ich ihr zum Abschluss ihrer Amtszeit wünschen.
Wie könnte ein solches Angebot konkret aussehen?
Man müsste den Faden, den Cameron spann, wieder aufgreifen und die Inklusion von EU-Migranten in die Wohlfahrtssysteme der Gastländer auf erarbeitete Sozialleistungen begrenzen. So könnte man z.B. ererbte Leistungen, also solche, die mit dem Arbeitsverhältnis nichts zu tun haben, vom Sozialsystem des EU-Heimatlandes statt vom System des Gastlandes bezahlen lassen. Das würde den EU-internen Sozialmagnetismus reduzieren, unter dem alle Länder Nordeuropas leiden. Ich bin mir sicher, dass die Briten drin bleiben, wenn dieser Konstruktionsfehler der EU korrigiert wird.
In Großbritannien treffen vor allem die geplanten Regelungen rund um die Provinz Nordirland auf heftigen Widerstand. Laut Vertrag würden Großbritannien und Nordirland in der Zollunion bleiben, sofern bis Ende 2020 kein Handelsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich geschlossen sein sollte. Zugleich wäre Nordirland weiterhin Teil des EU-Binnenmarktes - ohne, dass Großbritannien hier die Reißleine ziehen kann. Mit dem so genannten Backstop will die EU sicherstellen, dass es nicht doch zu Grenzkontrollen kommt, sollte das angestrebte Handelsabkommen zwischen Großbritannien und der EU doch nicht zustande kommen. Können Sie die Empörung im Königreich um den so genannten Backstop nachvollziehen?
Ja, die Irland-Regelung erzwingt eine Grenze für Menschen, Dienstleistungen und Kapital zwischen Nordirland und Großbritannien. Damit ist die staatliche Integrität des Vereinigten Königreichs beschädigt. Aber wenn man Nordirland nur in die Zollunion für Waren aufnimmt, liegt die Grenze für die anderen drei Grundfreiheiten zwischen Nordirland und der Republik Irland. Der erste Zöllner, der dort aufgestellt wird, läuft Gefahr, von der IRA erschossen zu werden. Dann bricht der Bürgerkrieg wieder aus. Ähnliches gilt für den harten Brexit. Nur als Teil der EU kann das Vereinigte Königreich seine staatliche Integrität bewahren und die Spannungen in Nordirland vermeiden. Auch das bestärkt mich in der Vermutung, dass die Chance für das Abblasen des Brexit größer ist, als viele denken. Diejenigen, die beim Referendum für den Brexit stimmten, merken allmählich, dass Sie einen Denkfehler begangen haben und kriegen kalte Füße.
Angesichts der womöglich drastischen Konsequenzen eines Brexit gewinnt die Diskussion um eine so genannte Norwegen plus-Regelung in London an Fahrt. Danach würde das Vereinigte Königreich die EU zwar verlassen, wie im Referendum vom Sommer 2016 beschlossen, bliebe aber dauerhaft im EU-Binnenmarkt und der Zollunion. Wäre das nicht der beste Weg für Großbritannien und die EU?
Nein, dann können sie auch gleich drin bleiben. Das Hauptthema ist doch die Begrenzung der EU-internen Migration. Nach Norwegen können EU-Arbeitskräfte wandern.
Aber falls alle Bemühungen dennoch scheitern, und der Brexit-Deal auch bei der für Januar geplanten neuen Abstimmung scheitern sollte: Müssten wir uns dann doch auf den einen ungeordneten Brexit einstellen?
Ja klar. Ich glaube und hoffe, dass es dazu nicht kommt. Da keiner das Chaos will, setze ich auf die Vernunft aller Beteiligten in der letzten Sekunde.
Wie sehr träfe ein solches Szenario die britische Wirtschaft?
Die Zölle würden die gewachsenen Handelsketten zerstören, insbesondere auch, weil es wegen der mehrfachen Grenzüberschreitung von Zwischenprodukten zu einer Kaskadenwirkung beim Zollsatz käme. Die EU ist der größte Handelspartner der Briten. Bis die Briten in der weiten Welt Ersatz gefunden haben, wird ein erheblicher Teil ihrer Firmen in Konkurs gegangen sein.
Großbritannien ist viertgrößte Exportmarkt für Deutschland. Welche Folgen hätte ein harter Brexit für die deutsche Volkswirtschaft?
Erhebliche, zumal die Automobilexporte überdurchschnittlich mit Zöllen belastet wären. Noch schwerer wiegt aber der Verlust eines politischen Partners in der EU, der den Freihandel mit dem Rest der Welt garantiert hat. Auch Dank der politischen Schützenhilfe der Briten gegenüber dem französischen Protektionismus hat sich die deutsche Wirtschaft in den letzten 45 Jahren weltweit sehr gut etablieren können. Ohne die Briten würde die EU zu einer Handelsfestung mutieren, deren größtes Opfer die weltoffene Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland wäre. Deshalb wiederhole ich meinen Rat an die Kanzlerin, dass sie den Rockzipfel der Geschichte im letzten Moment mutig erfasst.