Corona hat die Wirtschaftsperspektiven 2020 nicht nur beschnitten, sondern kastriert. Derart grottenschlechte Konjunkturdaten haben auch alte, immer grauer werdende Börsenhasen wie ich noch nie gesehen. Allein schon der schwache Ölpreis ist ein wahres konjunkturelles Armutszeugnis.
Noch kann niemand sagen, wann die pandemische Heimsuchung zu Ende geht. Unternehmen aus den Branchen Luftfahrt, Tourismus, Auto, Maschinenbau, Elektro, Chemie und Konsum können daher keine belastbaren Umsatz- und Gewinnausblicke geben. Ist diese Unsicherheit nicht das pure Gift für Aktien? Überhaupt, wie lange können Firmen überleben, wenn ihre Reserven wie Eis in der Sommerhitze schmelzen? Und wie steht es um Jobs und Kaufkraft der Konsumenten?
Hinzu kommen Instabilitäts-Zustände wie bei Hempels unterm Sofa. Schon vor Corona war die Welt hoffnungslos überschuldet. Und jetzt fragt sogar Olaf Scholz "Was kostet die Welt?". 2020 wird das deutsche Haushaltsdefizit ca. acht Prozent betragen. Den Schulden-Vogel schießt aber Amerika ab. Auf die seit Gründung der USA 1776 bis 2019 angehäufte Staatsverschuldung kommen allein in diesem einen Jahr 2020 knapp 20 Prozent hinzu. Nein, die amerikanische Schuldenuhr geht nicht nur, läuft nicht nur, man kann sie als Hochleistungsventilator benutzen.
Ebenso tobt in der EU die Finanznot. In der Frage der europäischen Schulden-Solidarität hängt der Brüsseler Haussegen nicht nur schief, sondern droht mit allen schädigenden Effekten auf das europäische Gemeinschaftswerk herabzufallen. Unabhängig davon setzt die EZB ihre Staatsfinanzierung mit viel Schmackes fort. Ihre Liquiditätsausstattung der Marke "Tropischer Regenwald" bereitet bereits Angst vor den volkswirtschaftlichen Verwerfungen einer heißen Hyperinflation, die auch Aktien nicht kaltlassen würde.
All diese Systemrisiken haben mit Stabilität so wenig zu tun wie Meißner Porzellan mit Wühltisch-Ware im Discount-Möbelladen. Muss man also die dennoch fröhlichen Aktienmärkte für unzurechnungsfähig erklären?
Aktienmärkte schauen nicht nur auf die heutigen Risiken, sondern auf die morgigen Chancen
Anders als noch Ende Februar bzw. Anfang März werden die Börsen von schrecklichen Wirtschaftsnachrichten nicht mehr negativ überrascht. Wer Regenwetter erwartet, kann von tatsächlichen Niederschlägen nicht mehr geschockt werden.
Überhaupt bewerten Aktienanleger die weltweit gewaltigen Fiskalprogramme in Höhe von zweistelligen Billionenbeträgen als Maßnahmen zum Wiederdurchstarten. Sie erwarten, dass sich das mit Zeitverzug auch in steigenden Unternehmensumsätzen und -gewinnen niederschlägt.
Und bei aller Stabilitätskritik an der EZB muss man zeitgleich den "Kollateralnutzen" für Aktien berücksichtigen. Man muss immer das Beste aus einer Situation machen. Die Liquiditätshausse, die aus der planwirtschaftlichen Zinsdrückung resultiert, ist lebendiger denn je. Selbst Unternehmensanleihen dienen nicht als zinsseitige Ersatzbefriedigung, weil die Notenbanken auch bei ihnen zunehmend die Rolle des Staubsaugers übernehmen.
Die Malaise von Zinspapieren ist noch größer, wenn man die Inflation miteinbezieht. Doch ist zukünftig nicht von einer Hyperinflation auszugehen. Zunächst trifft eine nach Corona wiedererstarkende Nachfrage auf international zügig reaktivierbare Lieferketten. Die Globalisierung ist ja nicht tot. Ebenso wird der Ölpreis nicht zum Inflationstreiber. Jeder markante Preisanstieg bei Opec-Öl wird von der Fracking-Industrie in Amerika wegen höherer Marge mit freudig erregter Produktionsausweitung ausgenutzt, was die Ölpreise insgesamt wieder fallen lässt. Daneben darf der preisdämpfende Einfluss der zunehmenden Digitalisierung nicht unterschätzt werden, deren Vorteile sich in der Corona-Krise - siehe Home Office - klar zeigen.
Lange wurde theoretisch behauptet, dass geldpolitische Völlerei langfristig zu Inflation führen muss. Doch trotz der schon vor Corona dramatischen Liquiditätsschwemme vermochte es die EZB seit 2013 praktisch nicht, die Inflation auf die Zielgröße von zwei Prozent zu heben. Dieses Phänomen lässt sich in vielen westlichen Ländern mit Druckbetankung beobachten.
Mit einer gewissen Inflationsbeschleunigung ist zwar zu rechnen. Doch je höher die Preissteigerung ist, umso mehr lässt sich die Staatsverschuldung weginflationieren. Und Inflation ist ein Treiber für Aktien. Sie lässt jede Schraube und Maschine und hochgerechnet jede Firma im Wert steigen. Vor allem aber erlaubt sie, die Verkaufspreise anzuheben. Ja, es gibt auch triftige Gründe für die freundliche Aktienstimmung.
Die Zukunft birgt auch Aktien-Risiken
Die Virologen sind zur vierten Macht im Staat geworden. Ihre Labortheorien sind aber widersprüchlich. Das schlägt sich auch in der Politik nieder, wo sich momentan zwei Schwarze in der Frage der Wirtschaftswiedereröffnung nicht grün sind. Leider wird sogar mit einer Verschärfung des Lockdown gedroht. Diese fundamentale Stimmungsverschlechterung würde die Aktienbörsen nicht verschonen.
In der Krise ist es vollkommen in Ordnung, wenn der Staat zum Schutz systemrelevanter Firmen in die Wirtschaft einsteigt. Doch ist Vater Staat nicht der bessere Unternehmer. Wettbewerbs- und Innovationsfähigkeit kommen bei ihm zu kurz. Auch wird so manches staatliche Süppchen im Unternehmen im Hinblick auf wahlpopulistische Erwägungen gekocht. Auch ein Politiker ist doch nur ein Homo oeconomicus. Staatswirtschaft ist für die nachhaltige Wirtschaftskraft eines Landes und seine Aktienmärkte keine vitaminreiche Kost.
Bei einem Einstieg bei Lufthansa sollte der Staat immer das mahnende Beispiel Alitalia im Kopf haben, wo die einflussnehmende Politik verheerend gewirkt hat. Der Staat sollte mit Vorzugsaktien einsteigen, sich zurückhalten und dafür später eine höhere Dividende vereinnahmen. Und ganz wichtig: Ist die Krise verblüht, hat der Staat zu verduften. Sein Lohn ist der Verkauf seiner Beteiligung mit Gewinn, wenn die Börsenkurse wieder gestiegen sind. Ich hoffe auf die Ludwig Erhard-Partei.
Und dann mögen wir bitte auch von politischen Gerechtigkeitsanfällen verschont bleiben, die die Staatsgläubigen mit Steuererhöhungen oder Vermögensabgaben befriedigen wollen. Z.B. Personengesellschaften mit persönlich haftenden Eigentümern brauchen nach der Krise jeden Euro, um Staats-atheistischen Wiederaufbau auch zugunsten ihrer Belegschaft leisten zu können.
Nicht zuletzt müssen die coronal entzogenen Freiheitsrechte nach der Krise so schnell wie möglich eine Renaissance erfahren. Das zurzeit praktizierte "Durchregieren" sollte keine Lust auf mehr machen. Freie (Aktien-)Märkte brauchen eine freiheitliche Gesellschaftsordnung wie der Fisch das Wasser.
Die Börse hat immer Recht
In Abwägung aller Argumente haben die Aktienmärkte durchaus Chancen, ihre grundsätzliche Stabilität beizubehalten. Sie sind nicht ignorant oder realitätsfremd, sie verhalten sich rational, sie wägen Pro und Contra ab. Sicherlich ist aufgrund der unsicheren (wirtschafts-)politischen Gemengelage weiter von hohen Schwankungsbreiten und zwischenzeitlichen Kurseintrübungen auszugehen. Daher bleiben regelmäßige Aktiensparpläne erste Anlegerpflicht. Die finale Aktien-Erlösung kommt mit nennenswerten Fortschritten bei Medikamenten und Impfstoffen.
Und die (System-)Crash-Propheten, deren Untergangsszenarien bislang nicht aufgegangen sind, sollten nicht auf das Corona-Virus als nützlichen Idioten hoffen. Den Gefallen wird es ihnen nicht tun.
Rechtliche Hinweise / Disclaimer und Grundsätze zum Umgang mit Interessenkonflikten der Baader Bank AG: https://www.roberthalver.de/Newsletter-Disclaimer-725
Robert Halver leitet die Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank.