Schon vor seinem Abgang hatte Reitzle klar seine Ambitionen gezeigt, an die Spitze des Aufsichtsrats zu wechseln. Zwar hätte der scheidende Chef für einen sofortigen Wechsel die nach den Regeln der guten Unternehmensführung nötige Ausnahmegenehmigung von den Aktionären bekommen. Doch die zu erwartende öffentliche Debatte darüber veranlasste ihn - durchaus verärgert -, eine zweijährige "Abkühlphase" zu durchlaufen, in der Reitzle unter anderem die Spitze der Kontrollgremien des Schweizer Holcim-Konzerns und des Autozulieferers Continental übernahm.
Prognose gekappt
Wolfgang Büchele, Reitzles Nachfolger an der Linde-Spitze, bekam derweil die Schwäche der Weltwirtschaft immer stärker zu spüren: Das Gasegeschäft flaute ab, und der niedrige Ölpreis setzte zuletzt auch dem Anlagenbau zu. Am 30. November kappte Büchele schließlich die mittelfristigen Gewinnziele: Statt elf bis zwölf Prozent Kapitalrendite sollen bis 2017 nur noch neun bis zehn Prozent erreicht werden. Die Aufregung war groß, der Aktienkurs brach an diesem Tag um 14 Prozent ein. Unruhe machte sich breit im Unternehmen und unter den Aktionären.
Diese Szenarien haben offenbar bei den Vertretern der Kapitalseite im Aufsichtsrat den letzten Ausschlag gegeben, die geplante Rückkehr Reitzles an die Spitze des Kontrollgremiums voranzutreiben. Nach übereinstimmenden Medienberichten soll Reitzles Wahl zum Aufsichtsratschef auf die Tagesordnung zur Hauptversammlung am 3. Mai kommen.
Offenbar traut man dem eher teamorientierten Büchele zwar weiter die Rolle des Vorstands-chefs zu. Der hierarchisch gestrickte Reitzle soll ihm jedoch mit seiner Erfahrung mehr oder weniger intensiv beiseite stehen - eine durchaus konfliktträchtige Konstellation.
Denn Reitzle steht nicht nur bereit, den Aufsichtsratsvorsitz zu übernehmen - er soll auch eine neue Strategie für den aus dem Tritt geratenen Konzern entwickeln.