Börse Online: Im August und September blieb der erwartete Rückgang an den Börsen aus. Wie geht es jetzt weiter?
Lutz Welge: Ab Mitte Oktober kann es durch die Präsidentschaftswahl in Amerika, unabhängig vom Ausgang, eine Wahlrally geben. Danach dürfte ein kleiner Rücksetzer folgen. Im vierten Quartal ist nicht auszuschließen, dass der DAX aus seiner Seitwärtsbewegung ausbricht und es über die Marke von 10 800 Punkten schafft.
Warum?
Trotz Unsicherheiten vom Brexit über das Verfassungsreferendum in Italien bis zu den Wahlen in Frankreich und Deutschland 2017 zeigt sich der DAX erstaunlich krisenfest. Sicher, das Wirtschaftswachstum ist verhalten, liegt aber bei rund drei Prozent. In einem solchen Wirtschaftsumfeld gab es noch nie einen signifikanten Börsenabschwung.
Das reicht für steigende Kurse?
Ja. Das Wachstum ist zwar niedrig, aber stabil, und nichts liebt die Börse mehr als Stabilität. Zudem ist viel Geld an der Seitenlinie. Etliche Investoren hatten im August und September einen Einbruch erwartet, ihre Cashpositionen hochgefahren und stehen nach dem ausgebliebenen Rücksetzer unter Anlagedruck.
Geld an der Seitenlinie ist ein altes Lied.
Bargeld bringt Negativzinsen, Anleihen fallen wegen der Nullzinspolitik der Notenbanken als Anlageklasse weg, und große Investoren wie Pensionskassen oder Stiftungsfonds erhöhen ihre Aktienquoten von früher 20 auf mittlerweile bis zu 50 Prozent.
Aber die Anleihekurse laufen gut.
Das wird nicht so bleiben. Die Zentralbank der USA wird 2017 weitere Zinsschritte machen, das Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank auslaufen. Weil es keine Zinsen gibt, wird selbst eine kleinere Anhebung die Anleihekurse im längeren Laufzeitenbereich stark belasten. Es wird daher zu einem Wechsel raus aus Renten, rein in Aktien kommen. Das sind tektonische Verschiebungen, die gerade erst beginnen.
Wo legen Sie an?
Wir investieren in Sektoren mit strukturellem Wachstum und in Firmen, die in den vergangenen drei bis fünf Jahren profitabel zweistellig gewachsen sind. Dieses Profil bieten die Konsumgüter-, Nahrungsmittel-, Gesundheitsbranche sowie das Technologiesegment.
Trotz der gestiegenen Bewertung?
Ja. Denn auf welcher Grundlage bewerten sie Aktien? Zinsen und Gewinne. Zinsen gibt es nicht mehr. Dividendenaktien etwa aus dem Nahrungsmittelbereich können sich daher selbst vom jetzigen Niveau noch deutlich steigern. Eine solche Entwicklung sehen wir übrigens nicht zum ersten Mal.
Sie meinen die Nifty Fifty der 60er-Jahre, als für US-Qualitätsaktien wie Coca-Cola teilweise das 55-Fache des Jahresgewinns gezahlt wurde. Aber in den 70er-Jahren stürzten die Titel ab.
Richtig. Wenn Sie diese stabilen Werte Ende der 60er, Anfang der 70er gekauft haben, hatten sie zehn Jahre keinen Spaß. Aber so weit ist es heute noch nicht. Die Bewertungsexpansion wird weitergehen.
Mit dieser Meinung stehen Sie nicht allein. Die Mehrheit der Anleger setzt auf Nahrung, Konsum und Gesundheit.
Und warum nicht, der Konsensus kann auch mal richtig liegen. Allerdings sehen wir, dass der Markt seit einiger Zeit versucht, eine neue Richtung zu finden, und überlegt, ob stabile Titel nicht schon zu stark gelaufen sind.
Und?
Nein, als Basisinvestment funktioniert das weiter. Aber wir überlegen, ob es Zeit wird, mehr in zyklische Werte zu gehen. Wir denken an konjunkturnahe Sektoren wie Industrie und Grundrohstoffe. Aber keine Minen, Stahlfirmen oder Ölförderer, sondern eher Chemiekonzerne und Industriewerte.
Der Ölpreis hat sich aber jüngst erholt.
Wir sehen bei allen Einigungstendenzen der Erdöl fördernden Länder den Preis nicht über 60 Dollar je Fass steigen. Ab diesem Niveau werden in Amerika sofort die Fracker, also die Schieferölförderer, ihre Bohrtürme in Betrieb nehmen und Kapazität auf den Markt bringen, was den Preisanstieg begrenzt.
Welcher Markt bietet neben Deutschland noch Chancen?
Die negative Sicht auf Frankreich teilen wir nicht. Marine Le Pen hat als Parteivorsitzende des rechtsnationalen Front National ihre höchsten Beliebtheitswerte vor zwei Jahren gesehen und wird die Wahl 2017 nicht gewinnen. Gleichzeitig hat Emmanuel Macron vor seinem Rücktritt als Wirtschaftsminister mehr als 200 Reformen angestoßen. Die brauchen Zeit, beginnen aber zu wirken.
Und wie steht es um die deutsche Paradebranche Automobilbau?
Die ist zu günstig bewertet. Aktuell bepreist der Markt Autofirmen, als würde es in Zukunft nur noch Teslas geben und es bei Autos nur noch um das Design gehen. Zwar werden Elektroautos kommen, doch wenn es für den Massenmarkt interessant wird, werden die großen Hersteller schnell einsteigen und Tesla mit ihrem Fertigungswissen und -kapazitäten überlegen sein.