Auch die am 30. September vor dem Oberlandesgericht Braunschweig beginnende mündliche Verhandlung um Ansprüche Hunderttausender VW-Kunden verspricht nach Meinung von Experten keine rasche Entscheidung. Denn mit der Musterfeststellungsklage betritt der Senat in weiten Teilen Neuland. Inklusive einer erwarteten weiteren Runde am Bundesgerichtshof dürften abermals vier Jahre vergehen.
Insgesamt haben sich bislang fast 440.000 Besitzer von VW-Dieselfahrzeugen der Musterklage der Verbraucherzentrale Bundesverband angeschlossen, die stellvertretend für die Betroffenen vor Gericht zieht. "Volkswagen hat seine Dieselkunden betrogen - vorsätzlich, sittenwidrig - und schuldet deshalb Schadenersatz", begründet Verbandschef Klaus Müller die Klage.
Wegen des großen öffentlichen Interesses verhandelt der 4. Zivilsenat in der Stadthalle in Braunschweig. Dort läuft seit einem Jahr auch der milliardenschwere VW-Anlegerprozess. Für die Verhandlung über die Musterfeststellungsklage rechnet das Gericht mit mehr als 300 Zuschauern. Platz benötigen zudem die etwa zwei Dutzend Anwälte und die Vertreter von Volkswagen und dem Musterkläger. Auch Anwälte von Einzelklägern haben sich nach Gerichtsangaben angemeldet, um den Prozess vom Zuschauerraum aus zu verfolgen.
Mit dem Klageinstrument hatte die Bundesregierung im vergangenen Jahr eilig die Möglichkeit geschaffen, Ansprüche zu bündeln. Nicht wenige Kläger verbinden damit immer noch die Hoffnung auf eine Gleichbehandlung, nachdem Verbraucher in den USA schon vor zwei Jahren mit Milliarden entschädigt wurden. Eine vergleichbare Wiedergutmachung hierzulande lehnt Volkswagen ab und verweist auf eine komplett andere rechtliche Situation in den Vereinigten Staaten. Allein in den USA hat der Abgasskandal Volkswagen einschließlich Strafen mehr als 25 Milliarden Euro gekostet.
DAS RECHNEN HAT SCHON BEGONNEN
Das Gericht in Braunschweig steht damit unter einem hohen Erwartungsdruck. Denn auch in Berlin, wo der Ruf der Autobauer nach Jahren der politischen Nähe nun wegen Dieselgate ramponiert ist, wird das Verfahren genau beobachtet. Für Experten stellt sich die Frage, ob der Prozess möglicherweise mit Erwartungen überfrachtet ist. Denn am Ende steht zunächst einmal ein Feststellungsbeschluss. In dem kann das Gericht entscheiden, ob die Schadenersatzforderungen dem Grunde nach berechtigt sind. Auch zum Umfang der Ansprüche kann sich der Senat äußern, indem er etwas zur Berechnung sagt. Im Anschluss müssen die Kläger ihr Verlangen vor Gerichten aber individuell durchsetzen. Nur den eigentlichen Schaden müssen sie dann mit dem Musterurteil in der Tasche nicht mehr nachweisen.
In einigen der bisherigen Einzelverfahren ist VW von Landgerichten und Oberlandesgerichten zur Rückabwicklung von Käufen manipulierter Diesel verurteilt worden. Dabei wurde meist eine Nutzungsentschädung für die Zeit abgezogen, in der die Kläger ihre Wagen gefahren haben. Insgesamt gibt es laut VW bundesweit bisher rund 40.000 Urteile und Beschlüsse zu Dieselklagen. Zur Zahl der außergerichtlichen Einigungen äußert sich der Autobauer nicht. Anwälten und Verbraucherschützern zufolge wurde eine Vielzahl von Verfahren durch Vergleiche eingestellt. Welche Summen dabei flossen, ist nicht bekannt. 61.000 Klagen sind noch nicht entschieden.
Für Volkswagen bedeutet die Musterfeststellungsklage das Risiko, dass am Ende womöglich einer großen Zahl an Klägern ein Recht auf Schadenersatz zugesprochen wird. Einen Vergleich, der im Musterfeststellungsverfahren explizit vorgesehen ist, lehnt der Konzern als "schwer vorstellbar" ab. Er setzt darauf, das Gericht von seinen Argumenten zu überzeugen. Gleichwohl beginnt der Konzern schon damit, die Klägerzahl herunterzurechnen. Das könnte als Hinweis gedeutet werden, dass sich auch Volkswagen auf einen Vergleich vorbereitet.
GETÄUSCHT ODER NICHT GETÄUSCHT?
Den Recherchen der VW-Anwälte zufolge hat etwa ein Fünftel der Kunden, die sich der Musterfeststellungsklage angeschlossen haben, ihren Wagen nach dem 22. September 2015 gekauft. An dem Tag hatte Volkswagen die Abgas-Affäre mit einer Ad-hoc-Mitteilung bekannt gemacht. Diese Kunden hätten somit gewusst oder wissen müssen, dass ihr Dieselfahrzeug potenziell betroffen sei. Die überwiegende Zahl der Gerichte messe dem Datum Relevanz bei, weil eine Täuschung danach nicht mehr möglich sei, argumentiert VW. Etwa zehn Prozent der ins Klageregister beim Bundesamt für Justiz eingetragenen Anmeldungen seien zudem Mehrfachregistrierungen.
Verbraucherschützer Müller setzt darauf, dass sich Volkswagen am Ende einigen will. "Ich glaube, dass es einen Moment geben wird, an dem der VW-Vorstand das ganz nüchtern kalkulieren wird." Er könne sich vorstellen, "dass dann bei uns plötzlich ein Anruf eingeht, ob man mal miteinander reden kann".
rtr