Erstaunlich: In den zurückliegenden Wochen ist eine ganze Reihe von Banken und Hedgefondsstrategen wieder optimistisch geworden. Vier Argumente für steigende Kurse haben sie dabei allesamt im Angebot: Die Beschränkungen werden nach und nach gelockert, es gibt einen möglichen Durchbruch bei der medikamentösen Behandlung von Covid-19, die Notenbanken pumpen so viel Geld wie eben nötig in den Markt, und letztlich hat man 2020 schon abgeschrieben und blickt nach vorn in Richtung 2021.
Das klingt durchaus verlockend. Doch alle vier Argumente haben einen Haken.
Die derzeitige Lockerung der Ausgangssperren beispielsweise wird nur dann von Dauer sein, wenn es keine zweite Infektionswelle gibt. Und genau davon scheint man an der Börse auszugehen. Im Schnitt erwarten die Analysten, dass die Gewinn- und Umsatzeinbrüche der Unternehmen zwar das erste und zweite Quartal belasten, die Geschäfte bis zum vierten Quartal des Jahres aber wieder normal ausfallen werden. Doch wie sicher kann man sein, dass es keine zweite Welle geben wird? In Singapur beispielsweise mussten die Lockerungen zurückgenommen werden, weil die Fallzahlen überraschend wieder am Steigen sind. Außerdem muss man abwarten, wie die Lockerungen generell angenommen werden. Sind die Menschen tatsächlich schon bereit, wieder in Massen in Geschäfte zu strömen wie vor Beginn der Epidemie? Wohl nicht. Wahrscheinlicher ist eine nur sehr graduelle Rückkehr zur Normalität.
Das zweite Argument der Optimisten bezieht sich auf ein mögliches Corona-Medikament der US-Pharmafirma Gilead Sciences. Dieses befindet sich allerdings erst in einer sehr frühen Testphase. Und angenommen, das Präparat funktioniert tatsächlich, dann würde die Ausweitung der Produktion laut Gilead doch sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Man darf daher bezweifeln, ob das Medikament - immer vorausgesetzt, dass es wirkt - noch so rechtzeitig kommt, dass weitere Verwerfungen am Arbeitsmarkt verhindert werden können. Beispiel USA: Dort traf die erste Entlassungswelle weitgehend den Niedriglohnbereich. Eine zweite Entlassungsrunde dürfte besser bezahlte Angestellte erwischen, was aufgrund deren höherer Kaufkraft größere Auswirkungen auf die Verbraucherausgaben haben wird. Niemand dürfte hier immun sein. Der Nachrichtendienst Bloomberg berichtet, dass sogar der Internetriese Alphabet angekündigt hat, die Einstellungen für den Rest des Jahres erheblich zu verlangsamen und ab sofort "ausgewählte Initiativen zur Kostensenkung" zu starten.
Dann das Argument mit den Notenbanken. Es ist ein gutes, ein starkes Argument: Die Liquidität der Notenbanken sorgt für Stabilität am Finanzmarkt. Doch findet das Geld auch einen Weg in die reale Wirtschaft, zu den Konsumenten? Die Geldmenge mag dank der Notenbanken steigen, aber was ist mit der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes? Da sieht es anders aus: Die nimmt ab.
Bleibt Punkt 4: Das Jahr einfach abzuhaken und als Aktionär nach vorn zu blicken. Doch dafür braucht es viel Mut. Denn es fehlt schlicht an verlässlichen Schätzungen für die kommenden Quartale. Fakt ist, dass die aktuellen Aktienbewertungen deutlich über dem Schnitt der zurückliegenden fünf und der zurückliegenden zehn Jahre liegen. Und Fakt ist auch, dass in der Vergangenheit Rezessionen immer eine jahrelange Hausse beendet haben und sich ein folgender Bärenmarkt nicht einfach so schnell in Luft auflöst.
Martin Blümel ist leitender Redakteur bei BÖRSE ONLINE und Autor des Börsenblogs www.bluemelstaunt.com