Dür Biogen ist 2020 ein spannendes Jahr. Das Biotechschwergewicht wird in den nächsten Monaten in den USA und wohl danach auch in Europa den Zulassungsantrag für seinen Alzheimerantikörper Aducanumab einreichen. Diese überraschende Ankündigung hat die Biogen-Aktie seit Oktober um 30 Prozent nach oben katapultiert. Noch im März 2019 waren die zulassungsrelevanten klinischen Studien vorzeitig gestoppt worden.

Nach Auswertung der Daten aus den darauf folgenden Monaten ist das Management überzeugt, dass die Substanz nach Verabreichung der höchsten Dosismengen in der Lage ist, den Abbau der kognitiven Leistungen im Hinblick auf Gedächtnis, Orientierung und Sprache zu verlangsamen.

Ob Biogen mit seinem japanischen Partner Eisai die Marktzulassung erhält, ist aber noch völlig offen. Aducanumab verhindert die Ablagerung von Amyloid-Beta. Diese fehlgefalteten Proteinstrukturen lösen im Gehirn immer größere Zellschädigungen aus. Allerdings ist in der medizinischen Forschung noch nicht eindeutig belegt, dass Amyloid-Beta-Plaques die pathologische Ursache für Alzheimer sind. Eines hat Aducanumab aber sicher bewirkt: Nach einer langen Serie von klinischen Fehlschlägen und enttäuschten Hoffnungen sind Alzheimer und andere neurodegenerative Erkrankungen wieder auf dem Radar vieler Anleger.

Enorme Chancen, hohes Risiko


Die meisten Wirkstoffe gegen neurodegenerative Erkrankungen werden für Alzheimer, Parkinson und die Huntingtonkrankheit entwickelt. Während es in der Krebsmedizin und bei den erblich bedingten Erkrankungen immer mehr Marktzulassungen für neue Therapien zu feiern gibt, bleibt das zentrale Nervensystem (ZNS) ein schwieriges Terrain. Das hängt häufig damit zusammen, dass die Grundlagenforschung die molekularen Schaltstellen für die Krankheiten noch nicht vollkommen durchschaut hat.

Um klare Ergebnisse hinsichtlich des Wirkprofils zu identifizieren, müssen deshalb mehr Patienten in die klinischen Studien einbezogen werden. Zugleich ist das Risiko des Scheiterns größer. Nach einer Analyse des Tufts Center for the Study of Drug Development liegt in anderen Krankheitsfeldern die Wahrscheinlichkeit für eine Zulassung bei 66 Prozent, wenn das Produkt erst einmal die zulassungsrelevante klinische Phase III durchläuft. ZNS-Produkte kommen hier auf 46 Prozent. Zugleich belaufen sich die Kosten für alle klinischen Studien auf bis zu fünf Milliarden US-Dollar. Im Extremfall sind das doppelt so hohe Investitionen wie bei anderen Indikationen.

Umgekehrt winken jährliche Spitzenumsätze im Milliardenbereich für Produkte, die den Sprung auf den Markt schaffen. Die demografische Entwicklung erhöht zudem den Druck, neue Medikamente und Diagnostika gegen Nervenleiden zu entwickeln. Um die gesundheitlichen Schäden für Patienten in Grenzen zu halten, kommt es für alle neuen Produkte darauf an, die Krankheit im frühestmöglichen Stadium anzugehen.

Biotech auf dem Vormarsch


Über Jahrzehnte waren ZNS-Arzneien eine Domäne der Pharmaindustrie. Besonders bei Indikationen in Milliardenmärkten wie Depression oder Schizophrenie. Zuletzt meldeten etliche Biotechfirmen Etappensiege mit Wirkstoffen, die Nervenkrankheiten mit neuen therapeutischen Ansätzen bekämpfen. Dazu zählen Gen­therapien gegen Krankheiten, die durch geschädigte Zellen verursacht werden. Intakte Gene werden in bestimmte Gehirn­regionen platziert, um ein Fortschreiten der Krankheit zu unterbinden und im Ideal­fall Patienten langfristig zu heilen.

Ein solcher Quantensprung hätte zur Folge, dass hohe Behandlungskosten langfristig verringert werden. Dementsprechend groß ist die Preissetzungsmacht der Firmen. Weil bislang keine adäquaten Behandlungsmethoden verfügbar sind, wird es für Krankenkassen und Gesundheitsdienstleister schwierig, den Patienten aus Kostengründen die neuen Produkte vorzuenthalten.

Charakteristisch für die meisten Biotechunternehmen ist auch, dass sie ihre Produkte für Nischenindikationen von Nervenleiden entwickeln. Von diesen Orphan Diseases sind manchmal nur wenige Zehntausend Personen betroffen. Mit dieser Strategie können die Firmen die Patientenzahl für die klinischen Studien in einem überschaubaren Rahmen halten - und nach der Marktzulassung ein eigenes Vertriebsteam auf die Beine stellen, ohne eine Marketingallianz mit einem großen Pharmakonzern eingehen zu müssen.

Drei klare Kaufkandidaten


Ausgewählte Biotechs aus diesem Feld bieten für Langfristanleger eine Depotbeimischung. Wer in solche Einzelwerte investiert, sollte sich aber stets vor Augen halten, dass der Kurshebel im Falle von Fehlschlägen nach unten genauso groß ist wie nach oben. Ein Beispiel ist der Kurseinbruch bei Sage Therapeutics im Dezember 2019, als ein bereits für die Behandlung von Wochenbettdepression zugelassenes Medikament die definierten klinischen Endpunkte bei schwerer Depression verfehlte. Dagegen ist der Aktienkurs von Uniqure zuletzt wieder angesprungen, weil das Unternehmen in diesem Jahr erste wegweisende klinische Resultate für zwei Präparate gegen die Huntingtonkrankheit und die Bluterkrankheit Hämophilie B präsentieren wird. Bei Morbus Huntington handelt es sich um eine tödlich verlaufende Erbkrankheit, die meist ab einem Alter von 40 Jahren auftritt und zu einem Absterben des zentralen Nervengewebes und der zum Großhirn gehörenden Basalganglien führt. Uniqure will mit einer einmaligen Injektion das Fortschreiten der Krankheit im frühen Stadium stoppen. Für die weitere Entwicklung hat die niederländische Firma eine Kooperation mit dem Pharmagiganten Bristol-Myers Squibb. Bis zu zwei Milliarden US-Dollar würde der Deal bei Erreichen aller Ziele in die Kassen spülen.

Spekulativ und hochspekulativ


Auch Ionis Pharma ist im Bereich Huntington unterwegs und hat sich mit Roche ebenfalls einen Pharmapartner ins Boot geholt. In klinischen Studien ließ sich nach Einmalabgabe eine um 30 bis 40 Prozent verringerte Produktion des krankheitsauslösenden Eiweißes mHTT nachweisen. Bis 2022 sollen erste Daten der beiden Zulassungsstudien vorliegen.

Ionis hat bereits eigene Produkte auf dem Markt und ist führend bei der Antisense-Technologie, welche die Expression von bestimmten krankheitsauslösenden Genen im Erbgut unterbindet. Ein hochspekulativer Kandidat für die Watchlist ist die US-Firma Voyager Therapeutics. Das am weitesten fortgeschrittene Präparat durchläuft die erste Wirksamkeitsstudie bei Parkinson. Die Krankheit ist, grob gesagt, durch einen Verlust des Botenstoffs Dopamin gekennzeichnet - dieser wird im Gehirn produziert und ist an der Steuerung der Bewegung beteiligt. Das Mittel soll dem Gehirn bei der Umwandlung von Levodopa in Dopamin helfen. Ein Einstieg empfiehlt sich erst nach positivem Wirksamkeitsnachweis.

Neurocrine Biosciences schreibt dagegen schon schwarze Zahlen. Den ersten großen Durchbruch feierte Neurocrine mit Orilissa zur Behandlung von Endometriose, einer schmerzhaften Wucherung der Gebärmutterschleimhaut. Die Firma erhält hier Umsatzbeteiligungen von Partner Abbvie. Das im April 2017 in den USA zugelassene Medikament Ingrezza vermarktet Neurocrine in Eigenregie. Ingrezza wird Patienten mit Spätdyskinesie verabreicht. Die betroffenen Personen zeigen unwillkürliche Bewegungen und Zuckungen im Gesicht und an den Körper­extremitäten.

Abwarten ist hingegen bei Biogen angesagt. Die in diesem Jahr laufenden Folgebeobachtungen bei Aducanumab werden für die Zulassung sehr wichtig. Entscheidend wird letztendlich sein, ob die Sub­stanz bei Alzheimerpatienten im Frühstadium den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen kann.