Stefan Oschmann kommt heute mit Anzug und Krawatte in den Konferenzraum der Chefetage der Merck KGaA in Darmstadt. Der 62-Jährige hatte vor dem Interview mit €uro am Sonntag noch geschäftliche Termine. Obwohl er dort Vorstandsvorsitzender ist, trifft man ihn meist leger in Jeans und Pulli. Seit Oschmann 2016 die Geschäftsleitung übernommen hat, richtet er den Konzern konsequent auf Innovation aus. Er arbeitet etwa zusammen mit Partnern, vorwiegend aus der Forschung, an der kompletten Digitalisierung der Laborausstattungen, welche die Merck-Sparte Life Science herstellt. Auch in der Pharmakologie und dem Technologiesegment für Display- und Halbleitertechnik setzt Oschmann auf Zukunftsthemen. Das Faible dafür hat er während seiner langjährigen Arbeit in den USA entwickelt. Stefan Oschmann über seine amerikanische Prägung, die speziellen Herausforderungen und die Chancen eines eigentümer­geführten Konzerns.

€uro am Sonntag: Sie haben während Ihrer Karriere viel Zeit in den USA verbracht. Sie sind eher der amerikanische Managertyp?

Stefan Oschmann:

Es stimmt, ich habe viele Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt und gearbeitet, bei der UNO und dann beim US-Pharmakonzern MSD. Daher bin ich von der angelsächsischen Managementkultur der 80er- und 90er-Jahre ziemlich geprägt. Als ich 2011 zu Merck ­gekommen bin, habe ich eine andere Kultur kennengelernt, und, ehrlich gesagt, viel dazugelernt.

Was haben Sie bei Merck dazugelernt?

Wie sinnvoll es ist, ein Unternehmen langfristig auszurichten. Die Eigen­tümerfamilie hält bei Merck gut 70 Prozent der Anteile und denkt in Generationen. Zugleich profitieren wir davon, an der Börse notiert zu sein. Bei Merck vereinen wir also das Beste zweier Welten. Das macht den Konzern so besonders.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Heute arbeiten bei Merck allein in Darmstadt Menschen aus über 80 Nationen. Viele Talente aus der ganzen Welt kommen zu uns. Das ist gelebte Vielfalt, auf die wir stolz sind. Wir haben hier aber auch noch richtige Arbeiterdynastien, Familien, die seit Generationen im Unternehmen sind. Sie fühlen sich eng mit dem Unternehmen verbunden und empfinden viel Verantwortung. Davon profitieren wir sehr.

Das ist so in der angelsächsischen Kultur nicht verankert?

Das will ich so nicht sagen. Aber bei Merck ist das Thema Verantwortung seit 351 Jahren fester Bestandteil der Unternehmenskultur. Für uns liegt schon sehr lange auf der Hand, was uns antreibt: Wir glauben an die positive Kraft der Wissenschaft. Sie ist das Herzstück unserer Arbeit. Forscher haben bei uns deshalb auch einen echten Promistatus, sie sind unsere Rockstars.

Sie sind studierter Veterinär. Kommt daher Ihr Faible für die Wissenschaft?

Sicher habe ich dadurch einen Zugang bekommen. Ich bin fest davon überzeugt, dass sich die großen Herausforderungen unserer Zeit nur mit Wissenschaft und Technologie lösen lassen. Der Klimawandel etwa lässt sich nicht nur durch Verzicht aufhalten. Wie kann etwa biotechnologisches Clean Meat (im Labor kultiviertes Fleisch; Anm. der Redaktion) helfen, Fleischkonsum nachhaltiger zu machen? Und wie ermöglichen smarte Materialien immer schnellere, sparsamere Mikrochips? Das sind nur zwei der Zukunftsthemen, an denen unsere Forscher intensiv arbeiten.

Ist das der Grund, weshalb Sie Merck in den zurückliegenden Jahren vom ­Chemie- und Pharmaunternehmen in ein Wissenschafts- und Technologie­unternehmen umgewandelt haben?

Wenn Sie sich anschauen, womit wir uns beschäftigen, dann sind das schon lange nicht mehr klassische Chemie und Pharmazie. Das sind Technologien wie Genomeditierung (Umprogrammierung von Informationen in DNA-Stücken; Anm. der Redaktion) und Immunonkologie. Oder Hightechmaterialien, die bei der Herstellung hocheffizienter Halbleiter zum Einsatz kommen. Hinzu kommt: Wir bleiben nie stehen, sondern entwickeln uns immer weiter. Seit 2007 haben wir rund 40 Milliarden Euro im Portfolio bewegt. Damit sind wir eine der größten Dealmaschinen Europas.

Sie haben sich quasi einmal um die ­eigene Achse gedreht ...

Ja. Wir haben 2004 erst die Laborvertrieb- und 2007 die Generikasparte verkauft, 2018 dann unser Consumer-Health-­Geschäft mit nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten und Nahrungsergänzungsmitteln an Procter & Gamble abgegeben. Die Übernah­me des Schweizer Unternehmens Serono im Jahr 2007 war ein wichtiger Schritt in Sachen Biotech. Zudem haben wir 2010 den Laborausrüster Millipore, 2014 die britische Spezialchemiefirma AZ Electronic Materials und 2015 das US-Unternehmen Sigma-Aldrich unter unser Dach geholt. Zuletzt kam Versum als Hersteller von Halbleitermaterialien dazu.

Durch die Presse geistert derzeit das Gerücht, dass Sie den Geschäftsbereich Surface Solutions, in dem Sie Pigmente für die Auto- und Kosmetikindustrie produzieren, verkaufen wollen. Können Sie sich dazu äußern? Gerüchte kommentiere ich grundsätzlich nicht. Surface Solutions ist ein starkes Geschäft innerhalb der Pigmentbranche. Verglichen mit anderen Akteuren heben wir uns mit unserem Fokus auf hochwertige Anwendungen klar ab und haben in der Vergangenheit hervorragende Ergebnisse erzielt.

Allerdings läuft das Geschäft bei ­Surface Solutions nicht gerade rund.

Nach einigen Jahren des Wachstums befindet sich die Branche aktuell in einer temporären Abschwächung, zum Beispiel im Automobilsektor. Ich bin nicht der weltgrößte Experte in Bezug auf Vorhersagen über die Automobilkonjunktur. Aber egal, wie das Auto betrieben wird, eine Farbe braucht es immer. Die wird sogar immer wichtiger.

Der Wert für Surface Solutions wird auf 1,5 Milliarden Euro geschätzt. Das würde doch dabei helfen, die derzeit enorm hohe Verschuldung des Konzerns von 12,5 Milliarden Euro wieder in den Griff zu bekommen.

Wie gesagt, zu Gerüchten werde ich nichts sagen. Fest steht: Wir haben eine hohe Glaubwürdigkeit bei den Rating­agenturen. Sie wissen, dass wir unsere Schulden immer ordentlich zurückzahlen. Wir werden zwei Jahre brauchen, bis wir wieder eine gewisse finanzielle Flexibilität haben.

Was ist noch geplant?

Wir wollen in allen drei Bereichen profitabel wachsen. Das operative Ergebnis soll also stärker steigen als der Umsatz. Zudem legen wir weiterhin ein großes Augenmerk auf eine nachhaltige Kultur des Kostenbewusstseins innerhalb des Unternehmens. Wir haben unsere Ziele fest im Blick, und unsere Ambition ist klar: Wir wollen das führende Wissenschafts- und Technologieunternehmen werden. Das ist anspruchsvoll, aber machbar. Mit unseren drei innovationsgetriebenen Geschäften gestalten wir den rasant fortschreitenden technologischen Wandel unserer Welt mit.

Der Schuldenberg rührt ja auch von der Übernahme des amerikanischen Halbleiterherstellers Versum. Was ­versprechen Sie sich davon?

Das Unternehmen passt ideal zu unserem Geschäft mit Elektronikmaterialien. Der Bereich wird derzeit noch stark vom Displaygeschäft bestimmt. Und Displays werden aus Flüssigkristallen und zunehmend aus organischen Leuchtdioden, kurz OLED, hergestellt. Während der Markt mit Flüssigkristallen gereift ist, ist das OLED-Geschäft wachstumsstark, auch bei uns. Über die Akquisition von AZ Electronic Materials sind wir damals stark in das Halbleitergeschäft eingestiegen. Mit Versum haben wir nun wesentliche Lücken in unserem Portfolio geschlossen und decken jetzt mit unseren Materialien alle Stufen der Chipherstellung ab.

Die asiatische Konkurrenz ist hier sehr stark. Welche Aussichten rechnen Sie sich in diesen Geschäften aus?

Das Displaygeschäft hat sich mittlerweile stark auf China fokussiert. Wesentliche Teile der Fertigung finden dort statt. Wir gehen davon aus, dass das Flüssigkristallgeschäft weiter relevant und profitabel sein wird, erwarten dort aber kein Wachstum mehr. Im Halbleiterbereich gehe ich von einem klaren Wachstumsszenario für die kommenden Jahre aus.

Auch in Anbetracht der Schulden haben viele Anleger kritisch auf die durch eine Bieterschlacht verteuerte Übernahme von Versum geschaut. Was haben Sie denen gesagt? Mir hat keiner gesagt, dass er die Übernahme zu teuer fand. Wir haben das 13-Fache des operativen Gewinns (Ebitda) gezahlt. Im Pharmabereich hätten wir das 20- oder 25-Fache gezahlt. Wir haben zu einem Zeitpunkt gekauft, zu dem der Halbleiterindex relativ günstig war. Seither ist er wieder um 30 Prozent gestiegen. Würden wir Versum heute kaufen, müssten wir also deutlich tiefer in die Tasche greifen. Die Investoren haben sich eher gefragt, wann der Halbleitermarkt wieder dreht.

Und, wann tut er das?

Ich habe keine Glaskugel, aber ich weiß, dass die weltweite Datenmenge exponentiell wächst, aktuell mit 30 Prozent, und dazu braucht es Chips. Wir gehen davon aus, dass wir 2020 die Trendwende sehen.

Gleichen Sie mit dem Technologie­bereich auch die Risiken des Biotechsegments aus?

Vor allem mit unserem Life-Science-Geschäft, das Werkzeuge und Materialien für die Forschung produziert. Das ist naturgemäß sehr viel stetiger als das Pharmageschäft. Aber auch bei Healthcare ist es zuletzt gut gelaufen und unsere Erfolge in der Forschung zahlen sich aus.

Allerdings ist der Hoffnungsträger Avelumab zuletzt in klinischen Studien zu Eierstock- und Magenkrebs in der letzten Phase gefloppt.

Er ist aber zugelassen gegen Blasen-, Nieren- und Merkelzellkarzinom. Und wir hoffen auf einen positiven Ausgang der Studien zur Behandlung von Lungenkrebs im nächsten Jahr. Unsere Konkurrenz war bei Eierstock- und Magenkrebs auch nicht erfolgreich. Bei klinischer Forschung muss man immer damit rechnen, dass manche Studien nicht funktionieren.

Welche Rolle spielen denn personalisierte onkologische Therapien in der Zukunft von Merck?

Wenn wir einen Antikörper mit einem ganz bestimmten Biomarker kombinieren können, dann hat das einen äußerst positiven Effekt. Zwar kann ich damit dann nur rund 30 Prozent der betroffenen Patienten behandeln, das aber sehr präzise und kosteneffizient. Deshalb bekommt man dafür auch schneller die Zulassungen von den Behörden. Langfristig wird die Präzisionsmedizin noch wichtiger für unser Geschäft werden.

Jenseits dieser Präzisionsmedizin - sehen Sie einen neuen Blockbuster in der Pipeline von Merck?

Wir haben mit Mavenclad ein orales ­Medikament zur Behandlung von Multipler Sklerose (MS) auf den Markt gebracht. Das ist bei den richtigen Patienten hochwirksam und verträglich. Wir haben zudem mit der Prüfsubstanz Evobrutinib einen weiteren Wirkstoff in Sachen MS in unserer Pipeline. Außerdem erwarten wir gespannt erste Ergebnisse aus dem immunonkologischen Projekt mit GlaxoSmithKline zum Wirkstoff Bintrafusp alfa im nächsten Jahr.

Welche weiteren Projekte verfolgen Sie im Unternehmen?

In Life Science arbeiten wir an der kompletten Digitalisierung des wissenschaftlichen Labors. Wir bauen außerdem neue Datenplattformen für die Krebsforschung auf. Hier kooperieren wir eng mit Palantir aus dem Silicon ­Valley. Bei unserem geplanten Joint ­Venture Syntropy bringt Palantir seine Expertise im Bereich Datenanalyse ein, wir unser Know-how im Pharmabereich.

Ist die Verwendung von Patientendaten nicht aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen schwierig?

Wir bauen die Plattform in einer ganz neuen Logik auf, die auf bioethischen Prinzipien beruht. Da geht es nicht um Datenhandel. Alle Daten bleiben immer im Eigentum der jeweiligen Forscher. Es geht vielmehr darum, diese Daten aus unterschiedlichsten Quellen anonymisiert der weltweiten Forschung zur Verfügung zu stellen. So können wir den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn deutlich beschleunigen und die Krebsforschung weiter voranbringen.

Vita:
Forschender Manager

Stefan Oschmann wurde am 25. Juli 1957 in Würzburg geboren. An der Ludwig-­Maximilians-Universität in München hat er Veterinärmedizin studiert und darin promoviert. Mit einem Posten bei den Vereinten Nationen startete er seine Karriere, danach wech- selte er zum Verband der Chemischen Industrie. Nach leitenden Funktionen beim US-Konzern MSD kam er 2011 zu Merck KGaA, seit 2016 ist er Vorstandschef des DAX-Konzerns.

Die Aktie
Tradition und Innovation

Die Gründerfamilie hält rund 70 Prozent am ältesten pharmazeutisch-chemischen Unternehmen der Welt. 2018 hat der Konzern 15 Milliarden Euro Umsatz und 3,8 Milliarden Euro operativen ­Gewinn erzielt und dürfte 2019 kräftig zugelegt haben. Die Techniksparte wurde jüngst verstärkt. Attraktiver DAX-Titel.