Michael Otto kam 1943 in Kulm - dem heutigen Chelmno in Polen - zur Welt. Sein Vater war im Zweiten Weltkrieg als Soldat schwer verwundet worden und lag in einem Lazarett. Die Familie verlor ihre Heimat im Osten, die Mutter musste 1945 mit dem zweijährigen Michael und seiner zwei Jahre älteren Schwester Ingvild fliehen. In Bad Segeberg wurde die Familie zwangs­einquartiert. "Wir hatten ein Zimmer zu fünft: meine Oma, meine Eltern, meine Schwester und ich", erinnert sich Otto.

Sein Vater Werner versuchte sich im Nachkriegsdeutschland als Schuhfabrikant, scheiterte aber, weil es an Fachkräften mangelte. Um die Restposten an Schuhen loszuwerden, bastelte er 300 Exemplare eines Katalogs mit handgeklebten Fotos und gemalten Bildern von 28 Paar Schuhen. Das war 1950 die Geburtsstunde des legendären Otto-Katalogs. Unter dem Motto "Vertrauen gegen Vertrauen" führte er als erster Versandhändler den Kauf auf Rechnung ein. Versandhandel blühte, vor allem die Leute auf dem Land fanden Gefallen daran. Kataloge wurden zur beliebtesten Lektüre der Deutschen.

Sohn Michael besuchte derweil in Hamburg das Gymnasium, machte nach dem Abitur bei der Münchner Privatbank Merck Finck & Co. eine Ausbildung zum Bankkaufmann und studierte anschließend in München und Hamburg Volkswirtschaft. Das Studium schloss er mit dem Doktortitel ab. In München lernte er auch seine zukünftige Ehefrau Christl kennen, die an der dortigen Meisterschule einen Abschluss in Modedesign machte.

Während seines Studiums wurde er mit der 68er-Protestbewegung konfrontiert. Auch Otto demonstrierte mit. Als aber in München bei einer Demo Steine geworfen wurden und dabei ein Student tödlich getroffen wurde, war für ihn Schluss.

1971 begann seine Bilderbuchkarriere im väterlichen Unternehmen. Er war noch keine 28 Jahre alt, als er als bundesweit jüngster Vorstand die Verantwortung für den Textileinkauf übernahm. Zehn Jahre später wurde er Vorstandsvorsitzender. Danach baute er den reinen Versender zu einem international agierenden Handels- und Dienstleistungsriesen aus. Durch Zukäufe oder Joint Ventures in Italien, Großbritannien, Japan, Polen, Portugal, Südkorea, Taiwan, USA, China und Russland wurde die Otto-Gruppe zeitweise zum größten Versandhaus der Welt. 1991 konnten die Otto-Kunden erstmals den 24-Stunden-Bestellservice nutzen und auch am Wochenende einkaufen.

Symbol des Wirtschaftswunders


Sein wichtigstes Marketinginstrument war neben dem Slogan "Otto ... find’ ich gut" der legendäre Otto-Katalog, der als "Versandbibel der Nation" und als Symbol für das deutsche Wirtschaftswunder und die alte BRD galt. Auf dem Cover lockten in den 80er-Jahren Models wie Claudia Schiffer die Kunden. Jahrzehntelang waren die Kataloge der Versandhändler Otto, Neckermann und Quelle gleichzeitig Einkaufsführer, Trendsetter und Schaufenster in die Warenwelt des Westens. In der DDR war der Katalog eine begehrte Schmuggelware - die Frauen im Osten schneiderten nämlich die Kleidung nach.

"In den Otto-Katalogen der 1950er- und 1960er-Jahre präsentierten rauchende Männer mit Pfeifen oder Zigaretten und einem Drink in der Hand ihre Hemden, und Sakkos. Die Models hießen noch Mannequins und Kinderkleidung und Damenwäsche wurden nicht fotografiert, sondern gezeichnet", schrieb der "Spiegel".

Der Katalog, der zuletzt in einer Auflage von vier Millionen Exemplaren erschien, wurde dennoch 2018 eingestellt. "Unsere Kunden haben den Katalog sukzessive selbst abgeschafft, weil sie ihn immer weniger nutzten und auf unsere digitalen Angebote zugriffen", so der Otto-Bereichsvorstand Marc Opelt.

Michael Otto - das Familienvermögen wird von "Forbes" auf 10,2 Milliarden Dollar geschätzt - hatte sein Unternehmen schon früh für die digitale Welt fit gemacht. "Ich bin schon Anfang der 80er-Jahre als Vorstandschef alle zwei Jahre mit unserem IT-Vorstand für eine Woche in die USA gereist - ins Silicon Valley und an die Ostküste. Dort haben wir viele Anregungen bekommen", erzählte er der Berliner Morgenpost. "Als 1995 das Internet seinen Siegeszug begann, haben wir sofort umgeschwenkt und sind ebenfalls ins Internet gegangen". Damals besaßen gerade mal 250 000 Menschen bundesweit einen Internetzugang. Aber Otto war als Unternehmer mit dabei, "obwohl wir im Netz nur ein paar Tausend Kunden ­hatten".

Der Umsatz im E-Bereich machte 1997 sieben Prozent des Gesamtumsatzes aus, heute bestellen 95 Prozent der sieben Millionen aktiven Kunden digital. Otto hat sich zu einem deutschen Amazon gewandelt, der Konzern, der auch die Nummer eins im deutschen Online-Möbelhandel ist, bietet inzwischen zwei Millionen Produkte von 6800 Marken an.

Den Wettbewerb mit Amazon sieht Otto sportlich. Amazon sei ein tolles Unternehmen, aber eher technisch und maskulin. Otto dagegen sei modischer ausgerichtet, femininer, serviceorientierter. "Ich kenne und schätze Amazon-Chef Jeff Bezos", verriet er dem "Stern". "Aber er hat eine ganz andere Philosophie als ich". Im Jahr 2000 fragte ihn Bezos, ob er mit 100 Millionen Dollar bei ihm einsteigen wolle. "Er suchte dringend Investoren, damals machte er Riesenverluste. Aber ich war mir nicht sicher, ob sein Konzept aufgehen würde".

Kritik wegen Paketdienst Hermes


1986 erhob Otto den Umweltschutz zum Unternehmensziel. In den Büros führte er die Mülltrennung ein, als der Grüne Punkt noch gar nicht erfunden war, und ließ die Toiletten mit Regenwasser spülen. Als erster Großversender überprüfte er sein Angebot nach ökologischen Kriterien: Tropenholz- und Pelzprodukte wurden aus dem Sortiment entfernt, ebenso quecksilberhaltige Batterien, giftige Lacke und ozonzerstörende Sprays.

Im Zusammenhang mit Lohndumping und den prekären Arbeitsbedingungen der Paketboten bei der konzerneigenen Tochter Hermes Europe wurde allerdings 2011 seine Rolle als Konzernchef kritisiert. Er bestritt die prekären Beschäftigungsbedingungen und sprach von schwarzen Schafen unter den Subunternehmern.

Die Mehrheit an seinem Konzern hat er inzwischen in eine Familienstiftung eingebracht. So soll sichergestellt werden, dass die Familie Otto langfristig den Einfluss über den Konzern behält. Michael Otto wechselte 2007 in den Aufsichtsrat, während sein Sohn Benjamin, 1975 geboren, 2015 die Rolle des "gestaltenden Gesellschafters" übernahm.