Technologische Zukunftsvisionen sind derzeit schwer angesagt. Unter den Stichworten dritte industrielle Revolution (Jeremy Rifkin) oder Industrie 4.0 (Bundesregierung) hören wir vom Internet der Dinge, in der alle Geräte über die Cloud miteinander vernetzt sind und über intelligente und selbst lernende Algorithmen unser Leben in allen Lagen erleichtern sollen: Ob das der Schnuller ist, der die Temperaturen des Baby an eine App weiterleitet oder die Glühbirne, deren Helligkeit und Farbe sich per Smartphone steuern lässt, Kühlschränke, die die Haltbarkeit von Lebensmitteln kontrollieren und nachbestellen oder die Produktion von Ersatzteilen aus dem 3D-Drucker. Geht es nach den Vorstellungen einiger Auguren, dann optimieren wir uns künftig in allen Lebenssituation mit Hilfe vernetzter Technologie in sogenannten Wearables (kleinen, am Körper getragenen Computern), versorgen uns mit eigener Energie und produzieren zu Grenzkosten nahe Null.

Die Buzzworte Digitalisierung, Individualisierung, intelligente Vernetzung und Automatisierung sind sogar bei den Bundestagsfraktionen angekommen. Schon jetzt existieren die technischen Voraussetzungen für viele Visionen und werden in Unternehmen implementiert. Die aktuelle Realität der High-Tech-Ökonomie sieht freilich anders aus, insbesondere wenn man auf Dienste schaut, die technisch eigentlich schon seit mindestens zehn Jahren hätten vereinfacht werden können.



Als ich mich vergangene Woche auf den Weg nach Hamburg zu einer Konferenz über die Zukunft des Bankings machte, stellte ich am Bahnhof fest, dass ich mein Portemonnaie vergessen hatte. Zu den üblichen Narrativen der digitalen Gesellschaft, vermittelt durch aufwendig gestalteter Videos über die Zukunft des Bezahlens, gehört schon seit einigen Jahren die Vision, dass wir unsere Brieftasche zu Hause lassen können, weil sie durch die "Mobile Wallet", also durch unser Smartphone, ersetzt wird.

Der deutsche Branchenverband BITKOM versteht unter einer "Mobilen Wallet "eine offene Plattform auf einem mobilen Endgerät, die es ermöglicht verschiedene Dienste zur Authentifizierung, Identifikation und Digitalisierung von Wertgegenständen in Proximity-Szenarien zu nutzen und zu kombinieren. Dazu zählen Zahlfunktion (Debit- und Kreditkarten, Lastschriften, etc.), die Identifizierung der persönlichen Identität (Personalausweis, Führerschein, Krankenkassenkarte, Mitarbeiterausweis), Zugangsberechtigungen (Schlüssel, Tickets, etc) sowie beliebig viele Mehrwertfunktionen und Dienstleistungen (Kundenbindungsprogramme, Couponing und Voucher, etc.) als auch Bargeld in digitalisierter/virtueller Form."



Lassen Sie mich einmal diese zwei Tage durchspielen, schließlich habe ich auf meinem Smartphone diverse Apps, mit denen ich bezahlen und Dienstleistungen in Anspruch nehmen kann. Bei Bedarf hätte ich mir weitere Anwendungen herunterladen können, um Zahlungstransaktionen anzustoßen. Das interessierte freilich am Bahnhofskiosk niemanden. Hier wird bar oder mit Karte gezahlt. Nur mit Smartphone ausgestattet hätte ich nur unterschiedliche Bezahlangebote verschiedener Zeitungen lesen können, dafür hätte ich den Kiosk gar nicht erst betreten müssen.

Mein Bahnticket hatte ich auf dem Smartphone gespeichert. Aber zur Identifizierung reicht es der Bahn nicht, den QR-Code vom Display abzuscannen, der Schaffner benötigt weiterhin eine analoge Identifizierungskarte, wie Bahncard, Kreditkarte oder Personalausweis. Die hätte ich nicht dabei gehabt und hätte nachzahlen müssen (allerdings womit?) oder später vorzeigen müssen. Während der Bahnfahrt wollte ich über meine Direktbank einen Wertpapierkaufauftrag aufgeben. Ohne meinen TAN-Generator wurde ich da ebenfalls nichts. An der Rezeption meines Hotels wäre ich mit meiner App-Armada bestenfalls ausgelacht worden. Hier akzeptiert man Karten, Bares oder auch die Zahlung per Rechnung.



Um es kurz zu machen, ich hätte mich mit meinem Smartphone auf dieser Reise jämmerlich blamiert. Ich hätte mir allenfalls im Rewe-Supermarkt etwas zu Essen kaufen können, weil ich dort per Yapital-App hätte bezahlen können. Zum Konferenz-Hotel hätte ich mir einen Wagen über MyTaxi oder Uber rufen und über die Apps bezahlen können. Auf der Konferenz hätte ich mir von Bekannten etwa per Lendstar Geld leihen oder sammeln können.

Das alles hätte aber genügend Power meines Akkus und stabile Netzverbindungen vorausgesetzt. Beides ist weiterhin keine Selbstverständlichkeit. Die Akku-Lebensdauer ist mittlerweile zum großen Bremsklotz der mobilen Wirtschaft geworden, alltagstaugliche Lösungen sind hier nicht in Sicht. In jedem Fall hätte ich aber für die Steuer und die Spesenabrechnung Belege benötigt. Ich kenne bisher keine App zum mobilen Bezahlen, die mit dem Bezahlen auch die Belege so überträgt, dass sie für steuerliche Abrechnungen geeignet sind. Immerhin, myTaxi sendet einen Beleg per Mail.



Was hat mir dieses Gedankenexperiment, das ich glücklicherweise nicht in der Realität testen musste, noch gezeigt? Soll unsere mobile Gesellschaft wirklich reibungsfrei und bequem funktionieren, dann benötigen wir Standards in Form von Protokollen, wie mobil gezahlt wird, wie Dokumente ausgetauscht und gesichert werden. Das Internet hätte nie den internationalen Durchbruch geschafft, wenn es kein internationales Protokoll gegeben hätte, wie Rechner Daten austauschen. Eisenbahnnetze wären hochgradig teurer, wenn jede Bahn eigene Schienenstandards hätte. Der Austausch von Zahlungen zwischen Konten bei verschiedenen Banken wäre teurer wenn es nicht einheitliche Standards geben würde, wie Buchundsdaten zu versenden und zu verarbeiten wären. Die internationale Containerschifffahrt wäre für die Reeder ein Alptraum, wenn jeder Spediteur eigene Containergrößen verwenden würde.



Die Entwicklungen im mobilen und Web Payment sind mittlerweile weit fortgeschritten. Technisch gibt es längst für die oben geschilderten Anwendungen Lösungen, nur nutzt sie kaum jemand im kommerziellen Alltag. Es gibt unzählige Anbieter aus dem Kommunikations- und Technologiesektor, die Zahlungsverfahren über Smartphone anbieten. Die Bezeichnung "Mobile Wallet" weckt ja bereits die Erwartung, die Brieftasche durch ein mobiles Endgerät ersetzen zu können. Aber die Anwendungen können untereinander nicht kommunizieren. Beim Discounter Netto kann ich zwar mit der Netto-App bezahlen, nicht aber mit Yapital oder PayPal. Und bisher mangelt es an der Kopplung von Identifikationsdokumenten wie Personalausweis oder Führerschein an einer digital-only-Präsentationslösung.

Die verschiedensten Anbieter konkurrieren mit den unterschiedlichsten technischen Verfahren um die Nutzer. Die schreckt aber die Vielfallt eher ab. Erst wenn eine einheitliche, übergreifende und verlässlich funktionierende Infrastruktur geschaffen ist, werden sich die Verfahren durchsetzen. Davon sind wir aber noch viele Jahre entfernt. In diesem Zusammenhang ist erstaunlich, dass die Banken in Europa, die ja mit SEPA ein einheitliches Protokoll für EURO-Zahlungen geschaffen haben, die Herausforderung bisher nicht angenommen haben und das Spielfeld des mobilen Bezahlen Unternehmen wie Apple, Google, Yapital und vielen anderen überlassen.

Und während Banken sich in endlosen und vermutlich unfruchtbaren Arbeitsgruppensitzungen weiterhin Gedanken machen, wie sie möglichst wenig Pfründe beim Bezahlen über das Smartphone abgeben, sind die Technologieunternehmen längst zwei Schritte weiter und arbeiten an den "wearable devices" und an Transaktionsverfahren (Stichwort Blockchain-Technologie), für nicht einmal mehr die Abwicklungsinfrastruktur der Banken als Technologie-Anbieter benötigt wird. Aber bis das überall einsetzbar ist, werde ich wohl noch mehrere Brieftaschen verschleißen.

Dirk Elsner arbeitet als Unternehmensberater für die Innovecs GmbH. Zu seinen Schwerpunkten gehören u.a. Veränderungen der Finanzwirtschaft, Regulierungsthemen und digitale Finanzdienstleistungen. Seit 2008 betreibt er das private Wirtschaftsblog Blick Log, das mehrfach ausgezeichnet wurde.