Mehr als fünf Jahre sind seit dem Bekanntwerden der Manipulationen bei Dieselfahrzeugen durch Volkswagen vergangen. Dennoch sind weiterhin viele Fragen offen. Denn nicht nur der Wolfsburger Konzern hat die europäischen Regeln bei der Abgaskontrolle bis zum äußersten ausgedehnt - und in manchen Fällen überschritten - , auch andere Hersteller wie etwa BMW oder Daimler stehen im Verdacht, bei den Abgaswerten getrickst zu haben.
Dabei geht es vor allem um den Einsatz von Abschalteinrichtungen: Techniken wie beispielsweise das sogenannte "Thermofenster" führen dazu, dass die Abgasreinigung eines Autos nur in einem bestimmten Temperaturbereich effizient arbeitet. Außerhalb dieses Bereichs wird die Reinigung eingestellt oder minimiert. Das führt dazu, dass viele Fahrzeuge im Realbetrieb deutlich mehr Abgase ausstoßen als im Testbetrieb.
Am Donnerstag fällte der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine Grundsatzentscheidung: Der Einsatz von Abschalteinrichtungen sei nach europäischem Recht illegal. Einzige Ausnahme könne sei, dass durch eine solche Technik der Motor vor einem "plötzlichen Schaden" geschützt werde, der eine konkrete Gefahr beim Fahren bedeute. Der bloße Verweis, den Motor vor Verschleiß- oder Abnutzungserscheinungen zu schützen - wie vielfach von den Herstellern argumentiert - reiche nicht aus.
Nach dem Urteil des EuGH kommt es jetzt auf die nationalen Gerichte an: Diese haben zu entscheiden, ob die verwendeten Abschalteinrichtungen der Hersteller im Einzelfall die Kriterien der Luxemburger Richter erfüllen oder nicht. In Deutschland gibt es dazu bisher keine eindeutige Rechtsprechung.
Der Rechtsanwalt Claus Goldenstein ist ein Experte im Dieselskandal. Seine Kanzlei Goldenstein & Partner war im Mai verantwortlich für das erste Dieselurteil gegen VW am Bundesgerichtshof. Hier erklärt er, was das jüngste Urteil aus seiner Sicht bedeutet.
BÖRSE ONLINE: Herr Goldenstein, was bedeutet das heutige EuGH-Urteil für deutsche Dieselfahrer?
Claus Goldenstein: Die Richter haben die Verwendung von Abschalteinrichtungen für generell illegal erklärt, wenn dies zu einem unterschiedlichen Schadstoffausstoß zwischen Prüfstand und Normalbetrieb führt. Zahlreiche Autobauer haben Abschalteinrichtungen in ihren Fahrzeugen eingesetzt. Das stellt einen Sachmangel dar, der Gewährleistungsrechte begründet. Mehrere Millionen deutsche Dieselfahrer haben also Anspruch auf Schadensersatz.
Und wie können Verbraucher diesen jetzt einfordern?
Der Schadensersatzanspruch kann mit Hilfe einer Anwaltskanzlei bei dem jeweiligen Fahrzeughersteller geltend gemacht werden. Die Kosten dafür werden von Rechtsschutzversicherungen übernommen. Wer nicht versichert ist, kann sein Verfahren auch selbst finanzieren oder die Dienste eines Prozesskostenfinanzierers in Anspruch nehmen. Letzterer streckt die Verfahrenskosten vor und bezieht dafür lediglich im Erfolgsfall eine Provision.
Hauptproblem für Verbraucher dabei ist aber, dass die Kläger den Herstellern einen Vorsatz nachweisen müssen…
...ganz genau. Die Hersteller verweisen darauf, dass die Verwendung von Abschalteinrichtungen teilweise den nationalen Behörden, in Deutschland also dem Kraftfahrtbundesamt, gemeldet und von diesen genehmigt worden seien. Der Europäische Gerichtshof verlangt nun, dass die nationalen Gerichte die Zulässigkeit der unterschiedlichen Abschalteinrichtungen einzeln prüfen.
Also nichts mehr zu machen?
Doch. Wir sind folgender Ansicht: Wenn die Behörden über das Ausmaß und die Funktionsweise dieser Abschalteinrichtungen in vollem Umfang informiert gewesen wären, hätten sie sie niemals genehmigen dürfen. Insgesamt muss man sagen, dass sich das Kraftfahrtbundesamt in der ganzen Affäre wirklich nicht mit Ruhm bekleckert hat. Für Verbraucher ist es daher gut, dass sich nun unabhängige Sachverständige mit den Abschalteinrichtungen der Autoindustrie auseinandersetzen werden.
Welche Autohersteller haben denn Abschalteinrichtungen verbaut?
Fast alle Hersteller von Automobilen haben Abschalteinrichtungen verbaut. Dazu zählen große Autobauer wie VW, Daimler, BMW, Volvo und Audi. Selbst Wohnmobile mit Fiat- und Iveco-Motoren enthalten illegale Abschalteinrichtungen.
Und wie sieht es bei Neuwagen aus?
Auch heute werden noch PKW mit Abschalteinrichtungen wie zum Beispiel dem Thermofenster verkauft. Ein Thermofenster sorgt dafür, dass die Abgasreinigung nur bei bestimmten Temperaturen vollends funktioniert. Unter anderem deshalb hat das EuGH-Urteil ja so eine große Bedeutung.
Rechnen Sie damit, dass es zu einer weiteren Sammelklage gegen einen oder gar mehrere Autohersteller kommt?
Das ist natürlich eine interessante Möglichkeit. Wir prüfen gerade noch
verschiedene Vorgehensweisen, raten Verbrauchern aber aktuell dazu, ihre
Rechte individuell durchzusetzen. Die Musterfeststellungsklage im Rahmen des
VW-Abgasskandals hat leider gezeigt, dass Sammelklagen in Deutschland noch
nicht sehr effizient sind. Ein Großteil der Teilnehmer der Klage wurde mit
vergleichsweise geringen Entschädigungen abgespeist.
Zusammengefasst: Trotz des verbraucherfreundlichen EuGH-Urteils bleibt für deutsche Verbraucher weiterhin ein Klagerisiko…
…die Chancen auf eine erfolgreiche Durchsetzung von Schadensersatz standen für betroffene Verbraucher noch nie so gut wie jetzt. Ein Restrisiko bleibt natürlich dennoch. Wir gehen aber davon aus, dass ab sofort eine verbraucherfreundliche Rechtsprechung im Dieselskandal die Regel sein wird.