Volkswirte und Börsianer sagten zur Entwicklung in Großbritannien:
ULRICH LEUCHTMANN, DEVISENANALYST COMMERZBANK "Trotz ihrer historisch einmaligen Niederlage im Unterhaus tritt May nicht zurück. Sie ist quasi der Jogi Löw der britischen Politik. 'Deal' und 'No Brexit' wären beide Pfund-positiv, 'No Deal' wäre Pfund-negativ. Die Wahrscheinlichkeit, die der Devisenmarkt bisher 'Deal' zugeordnet hatte, muss nun auf die verbleibenden Alternativen verteilt werden. Egal, wie man es macht, die Wahrscheinlichkeit für das Pfund-negative Szenario kann nicht gesunken sein und dürfte mehr oder weniger gestiegen sein."
STEFAN KIPAR, DEVISENANALYST BAYERN LB "May will am Montag Änderungen zum Austrittsvertrag im Parlament präsentieren und diese dann mit der EU abstimmen. Vor allem dies dürfte der Grund für die Pfund-Aufwertung nach der Abstimmung gewesen sein. Denn zum einen wird mit erneuten Verhandlungen eine Verschiebung des Austrittstermins wahrscheinlicher. Zum anderen ist die Wahrscheinlichkeit für einen Exit vom Brexit gestiegen. Dennoch bleibt die Gefahr eines No Deals substanziell, womit eine nachhaltige Pfund-Aufwertung weiterhin fragwürdig erscheint."
MILAN CUTKOVIC, MARKTANALYST AXITRADER "Die Anleger warten jetzt ab, ob May das Vertrauensvotum übersteht. Solange aber die Unsicherheit rund um den Brexit so hoch bleibt wie jetzt, dürften viele potenzielle Käufer ihr Pulver erst einmal trocken halten. Einige Marktteilnehmer sehen jetzt sogar die Chance für ein zweites Referendum, was für das britische Pfund positiv wäre. Die hohe Volatilität in der Währung dürfte auf jeden Fall anhalten."
ALEXANDER KRÜGER, CHEFVOLKSWIRT BANKHAUS LAMPE "Nach dem abgeschmetterten Brexit-Deal dürfte die Regierung jetzt einen späteren Austrittstermin beantragen. Die Zeit benötigt sie, um vor allem auf eine zeitnahe Lösung des irischen Grenzproblems zu dringen. Ein weicher Brexit ist somit immer noch möglich. Immerhin befürworten viele Parlamentarier einen Austritt ohne Sicherheitsnetz nicht. Vorerst gilt jedoch, dass das Wirtschaftsgeschehen unter dem Brexit-Chaos stärker leiden wird."
JÖRG KRÄMER, CHEFVOLKSWIRT COMMERZBANK "Gestern Abend hat Theresa May im britischen Parlament eine historische Niederlage erlitten. Die für heute angesetzte Misstrauensabstimmung dürfte sie zwar überleben. Aber ihr wird es wohl nicht gelingen, der EU in Nachverhandlungen substanzielle Zugeständnisse in der Irland-Frage abzuringen. Um Zeit zu gewinnen, dürften sich Großbritannien und die EU lediglich darauf einigen, den Austrittstermin gemäß Artikel 50 des EU-Vertrags um drei Monate auf Ende Juni zu verschieben. Vermutlich reift in dieser Phase in Großbritannien die Einsicht, die Briten ein zweites Mal über den Brexit abstimmen zu lassen. Das halte ich für wahrscheinlicher als einen ungeordneten Brexit, der zu großen wirtschaftlichen Problemen führen würde."
THOMAS GITZEL, CHEFÖKONOM VP BANK "Die Regierungschefin will am Montag einen Plan B vorlegen. Innerhalb von sieben Sitzungstagen kann dann erneut darüber abgestimmt werden. Denkbar wäre, dass Theresa May die EU doch noch um Zugeständnisse bittet. Ein in Zusammenarbeit mit Brüssel leicht modifiziertes Austrittsabkommen könnte möglicherweise als Plan B fungieren. Scheitert auch dieser, wird ein zweites Referendum wahrscheinlicher. Allerdings sind auch Neuwahlen nicht auszuschließen."
MICHAEL HEWSON, ANLAGESTRATEGE BEI CMC MARKETS "Die Frage ist nun, was passiert in Bezug auf Artikel 50. Werden die Abgeordneten den Brexit verschieben oder den Antrag zurückziehen? Schließlich erzählen sie uns ständig, dass sie ein 'No-Deal'-Szenario nicht wollen."
NIGEL GREEN, GRÜNDER UND CHEF VON DEVERE "Es ist wahrscheinlich, dass die Regierung eine Verlängerung des Artikel 50 beantragt. Je länger der Brexit-Prozess dauert, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit eines 'No Deal' und desto größer die Chance eines zweiten Referendums oder eines sanften Brexit. Dies würde die Finanzmärkte freuen und sowohl dem Pfund als auch britischen Wertpapieren Auftrieb geben."
THOMAS ALTMANN, PORTFOLIO-MANAGER BEI QC PARTNERS "Das Briten-Chaos geht heute in eine neue Runde. Mit dem Misstrauensvotum folgt der nächste May-Day. An der Börse glaubt die Mehrheit weiterhin an eine Lösung im Brexit-Chaos - auch wenn im Moment niemand weiß, wie diese Lösung am Ende aussehen soll. Die Anleger gehen fest davon aus, dass die EU weitere Zugeständnisse machen wird, um einen harten Brexit zu verhindern."
TIMO EMDEN, ANALYST BEI EMDEN RESEARCH "Für den Markt ist die Niederlage Mays keine Überraschung. Solange Anleger keine Klarheit über die Absichten Großbritanniens haben, dürften sie ihr Pulver soweit es geht trocken halten."
MARCEL FRATZSCHER, DIW-PRÄSIDENT: "Die Ablehnung des Brexit-Abkommens durch das britische Parlament ist nicht überraschend, hat aber die Verunsicherung und Besorgnis über einen harten Brexit in ganz Europa verstärkt. Ich bewerte diese Entscheidung jedoch bei weitem nicht so negativ, sondern sehe Anlass zu vorsichtiger Hoffnung. Die Wahrscheinlichkeit eines harten Brexit am 29. März 2019 ist durch diese Parlamentsentscheidung kaum gestiegen. Ich erwarte, dass der Austrittstermin für einige Monate verschoben wird oder Einzelabkommen für eine Übergangsphase getroffen werden, die ein wirtschaftliches Chaos verhindern. Die Ablehnung des Brexit-Abkommens hat dagegen die Wahrscheinlichkeit eines zweiten Referendums und damit eines Verbleibs Großbritanniens in der EU erhöht."
ERIC SCHWEITZER, DIHK-PRÄSIDENT: "Die Entscheidung ist auch für die deutsche Wirtschaft eine schlechte Nachricht. Ohne Abkommen droht der Brexit völlig ungeregelt abzulaufen. Für die deutschen Unternehmen steht einiges auf dem Spiel. Eine kurze Verschiebung des EU-Austritts von Großbritannien um einige Wochen, über die derzeit teilweise spekuliert wird, würde die Unklarheit wohl nur aufschieben. Letztendlich bliebe der gordische Brexit-Knoten weiter ungelöst."
IRIS BETHGE, HAUPTGESCHÄFTSFÜHRERIN BUNDESVERBAND ÖFFENTLICHER BANKEN (VÖB): "Die Ablehnung des Austrittsabkommens durch das britische Unterhaus könnte tatsächlich zum GAU des harten Brexit führen. In diesem Fall gibt es in Europa nur Verlierer. Wir appellieren an alle Akteure, die verbleibende Zeit zu nutzen, um noch einen geordneten Austrittsprozess zu organisieren. Dabei darf auch ein zweites Referendum kein Tabu sein."
BITKOM-PRÄSIDENT ACHIM BERG: "Mit der Ablehnung des Brexit-Deals droht Europa ein Datenchaos. Ab dem 30. März 2019 müssen deutsche Unternehmen ihre britischen Geschäftspartner und Kunden, dortige Rechenzentren oder IT-Dienstleister behandeln, als säßen sie außerhalb der EU. Wer dies missachtet, und zum Beispiel Kunden- oder Auftragsdaten im Vereinigten Königreich verarbeiten oder speichern lässt, verstößt gegen die Datenschutzgrundverordnung - mit den bekannten hohen Bußgeldrisiken. Es sei denn, die Unternehmen haben die explizite Einwilligung jedes einzelnen Betroffenen eingeholt, unzählige Verträge mit sogenannten Standardvertragsklauseln angepasst oder sich als Konzern verbindliche interne Datenschutzvorschriften genehmigen lassen. Wer sich auf diesen Fall nicht vorbereitet hat, für den heißt es: In den Notfall-Modus schalten und umgehend sämtliche Datenströme überprüfen, die in das Vereinigte Königreich führen könnten."
BGA-PRÄSIDENT HOLGER BINGMANN: "Das Votum des Unterhauses des britischen Parlaments ist wider alle Vernunft. Bis zuletzt hat Brüssel Brücken gebaut, über die das Vereinigte Königreich leider nicht gegangen ist. Und wir werden sie auch nach dieser desaströsen Entscheidung nicht einreißen. Es muss nun die Aufgabe der EU sein, deutlich zu machen, dass den Briten unter den Bedingungen des gemeinsamen Binnenmarktes die Tür zur EU auch künftig jederzeit offen steht."
GESCHÄFTSFÜHRER DER FINANZPLATZINITIATIVE FRANKFURT MAIN FINANCE, HUBERTUS VÄTH: "Die Ablehnung des Austrittsabkommens durch das britische Parlament erhöht die Unsicherheit für alle wieder deutlich. Kein Szenario - vom No-Deal-Brexit bis zu Neuwahlen oder einem zweiten Referendum oder dem Stopp des Brexit - kann derzeit ausgeschlossen werden. Aber die Briten sind am Zug. Es zeigt sich aber auch, dass die Unternehmen gut daran getan haben, sich auf den schlimmsten Fall, den harten Brexit vorzubereiten, denn mit der Entscheidung bleibt er das wahrscheinlichste Szenario."
BDI-HAUPTGESCHÄFTSFÜHRER JOACHIM LANG: "Das Ablehnung des Austrittsabkommens ist dramatisch. Wo Vernunft gefragt gewesen wäre, hat die Hysterie gewonnen. Die Chance, einen Ausweg aus dem Chaos zu finden, ist vorerst vergeben. Unternehmen diesseits und jenseits des Ärmelkanals hängen weiter in der Luft. Ein chaotischer Brexit rückt in gefährliche Nähe. Oberste Priorität muss nun sein, einen harten Brexit zu vermeiden. Die Verantwortung dafür liegt einzig und allein bei der Regierung und Opposition in London. Wenige Wochen vor dem Ausstiegsdatum können sich unsere Unternehmen nicht in der erforderlichen Weise vorbereiten. Ein ungeordnetes Ausscheiden des Vereinigten Königreichs riskiert ein bilaterales Außenhandelsvolumen Deutschlands von über 175 Milliarden Euro - an Ein- und Ausfuhren von Waren und Dienstleistungen. Es droht eine unmittelbar durchschlagende Rezession in der britischen Wirtschaft, die auch an Deutschland nicht unbemerkt vorüberziehen würde."
VDA-PRÄSIDENT BERNHARD MATTES: "Mit der heutigen Entscheidung hat die Mehrheit des britischen Unterhauses seinem Land einen Bärendienst erwiesen. Jetzt wird ein ungeregelter Brexit immer wahrscheinlicher. Die Folgen eines 'No-Deal-Szenarios' wären fatal. Die politischen Akteure in Großbritannien müssen sich der Tragweite ihres Handelns bewusst werden. Das Austrittsabkommen abzulehnen, ohne dass es eine konkrete Alternative für einen anderen gangbaren Weg gibt, ist politisch fahrlässig. Alle Beteiligten sollten jetzt besonnen agieren und daran arbeiten, einen Hard Brexit noch abzuwenden. Vor diesem Hintergrund kann auch die Verschiebung des Austrittsdatums sinnvoll sein, sofern damit substanzielle Fortschritte erreicht werden können."
IFO-PRÄSIDENT CLEMENS FUEST: "Ein harter Brexit mit seinen riesigen Kosten muss vermieden werden. Beide Seiten sollten nun zurückkehren an den Verhandlungstisch und das Abkommen so modifizieren, dass es für beide Seiten akzeptabel ist. Alles andere wäre ein nicht akzeptables Politikversagen."rtr