Das kann sich sehen lassen: Seit Patrikw Heider vor etwas mehr als fünf Jahren die Führung der Nemetschek-Gruppe übernommen hat, legte der Börsenwert des Primus bei Software für Architekten und Bauunternehmen einschließlich Dividenden um mehr als 1100 Prozent zu. Und die Aussichten bleiben gut. Analysten trauen dem Münchner Konzern auch für 2019 ein Fünftel mehr Umsatz zu. Beim Wachstum liegt Nemetschek damit ganz vorne in der europäischen Softwarebranche. Die schnelle Expansion in den USA, auch durch regelmäßige Zukäufe, trägt wesentlich dazu bei.

Trotz der starken Konkurrenz durch den größeren US-Konkur­renten Autodesk, die globale Nummer 1, erhöhten die Münchner als weltweit zweitgrößter Anbieter ihren US-Anteil am Umsatz in fünf ­Jahren von elf auf über 30 Prozent. "US-Töchter wie Bluebeam bereichern unsere Firmenkultur. Bei Softwareaffinität, Kundenorientierung und im Marketing sind sie sehr stark. Deutsche Töchter haben ihre Stärke darin, Ingenieurswissen einzubringen", erzählt Heider. Es werde bei Nemetschek schon mal geschmunzelt, wenn in der Firmengruppe "deutsche Ingenieure von ihren amerikanischen Kollegen lernen, wie Software besser vermarktet werden kann". Die Kombination der Fähigkeiten aus beiden Kulturen bringe Nemetschek in den USA und in Europa schneller voran.

€uro am Sonntag: Herr Heider, Nemetschek ist in Europa die ­Softwarefirma mit dem höch­sten Wachstum. Wie schwierig ist es ­derzeit, Entwickler zu bekommen?
Patrik Heider: Wir haben eine gute Strategie dafür. Nemetschek ist mit über 140 Standorten in 70 Ländern präsent und nutzt in der Softwareentwicklung neben den Entwicklungsabteilungen der einzelnen Marken auch Synergien über regionale Zentren, sogenannte Hubs, zum Beispiel in der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Weil unsere Ka­pazitäten dort an Grenzen stoßen, bauen wir weitere Hubs in der Ukraine und in Kanada auf. In Indien haben wir 2018 einen Hub mit 120 Entwicklern über unsere neue Tochter im Segment "Manage" erworben. Um weltweit ausreichende Kapazitäten zu haben, achten wir stark auf die geografische Verteilung.

Wer entscheidet, was für die jeweilige Software entwickelt wird?
Die einzelnen Marken, nicht Nemetschek als Gruppe, entscheiden, was in den Hubs für sie entwickelt wird. Wir konkurrieren überall mit allen Softwarefirmen um Spezialisten, auch hier in München.

Der im Juni 2016 fertiggestellte Gotthard-Basistunnel in den Schweizer Alpen ist mit 57 Kilometern weltweit der längste Tunnel und gilt in der Planung und im Bau als Meisterleistung. Sie haben dafür auch Software geliefert. Wie digitalisiert war das Projekt?
Vollständig - von der ersten Planung über den Bau bis zur Wartung des Tunnels nach der Übergabe. Und das ist vor allem für die Zukunft entscheidend. Der Aufwand für den Betrieb und Erhalt macht bei allen Objekten rund 70 Prozent der Kosten während der gesamten Lebensdauer aus, auch beim Gotthard-Tunnel. Früher waren dafür Berge von Plänen notwendig, beim Gotthard- Tunnel bekommt man mit einer ­großen Datei einfacher, schneller, transparenter und wesentlich günstiger den Überblick.

Werden die Dateien in Rechen­zentren gespeichert, um sie via Web, also in der Cloud, zu nutzen?
Öffentliche Clouds, wie sie große Dienstleister wie Amazon oder Microsoft anbieten, werden auch in unserer Industrie genutzt. Weil Architekten und Bauingenieure berechtigterweise ihr intellektuelles Kapital schützen wollen, sind sie bei digitalen Projekten nicht bereit, alles mit allen zu teilen. Die Vorschriften zum Datenschutz in Europa sind viel strenger als in Amerika. Für den Gotthard-Tunnel wurde deshalb eine private Cloud gewählt.

Wie wirken sich die unterschiedlichen Datenschutz-Anforderungen auf das Geschäft der Branche aus?
Öffentliche Datenwolken mit Software sind in Europa nicht populär. In den USA läuft dagegen schon sehr viel über öffentliche Clouds.

Wie entwickelt sich das Cloud-­Geschäft?
Ein großer Vorteil cloudfähiger Software sind die regelmäßigen Ein­nahmen durch die Abos. Bei Nemetschek bringen regelmäßige Zuflüsse die Hälfte des Umsatzes. Allerdings sind das vor allem Serviceverträge, die beim Verkauf der Softwarelizenzen angeboten werden. Cloud-Abos, sogenannte Subscription-Umsätze, liefern rund acht Prozent der Erlöse. Den Kunden, die ihre Software im Abo nutzen wollen, vermitteln wir große Cloud-Dienstleister.

Um die Digitalisierung in der Bauindustrie zu forcieren, gibt es ­einen Building Information Modeling Standard (BIM), der hier­zulande bei der Ausschreibung ­öffentlicher Projekte ab 2020 ­vorgeschrieben ist. Was bedeutet das für Ihr Unternehmen?
Wir werden voraussichtlich keinen außergewöhnlich starken Anstieg in der Nutzung sehen. BIM wird unser Geschäft wie bisher moderat anschieben, der BIM-Standard wird aber nicht der Kerntreiber sein.

Weshalb?
Der Einfluss des Standards ist in den Segmenten unserer Produktpalette unterschiedlich stark. Im Bereich "Design", also bei CAD-Software, müssen die Kunden mit erheblichem Aufwand von 2-D- auf 3-D-Anwendungen umstellen. Der Umstieg auf 3-D ist wie das Lernen eines neuen Programms - oft fehlen die Fachleute und die Expertise dafür.

Wie weit ist die Umstellung in den einzelnen Ländern und Regionen?
In Europa ist Großbritannien, wo mehr als 60 Prozent der Anwen- der in 3-D arbeiten, weit vorn. In Deutschland sind es gut 40 Prozent, in den USA deutlich über 50 Prozent, in Asien im Durchschnitt unter 30 Prozent. Japan ist ähnlich wie die USA weit entwickelt, in China ist 3-D so gut wie nicht vorhanden.

Was erwarten Sie in Zukunft für das Geschäft in Nemetscheks Segment "Bauen"?
Bei Software für Baufirmen werden die Programme nicht in die nächste Version überführt. Stattdessen werden BIM-kompatible Anwendungen hinzugefügt, ähnlich wie in der Autobranche Anfang des Jahrhunderts. Bei der Digitalisierung liegt die Autobranche im Vergleich mit allen anderen Industrien klar vorn.

Wie wird die Baubranche reagieren?
Bauunternehmen müssen viel mehr in IT investieren, nicht nur wegen des ab 2020 vorgeschriebenen BIM- Standards, sondern weil sie nur so ihre Produktivitätsrückstände verringern und ihre Profitabilität langfristig verbessern können.

Das ist Werbung für Ihr Geschäft.
Mag sein, aber es ist eine Tatsache. In der Praxis wollen Bauherren, dass die gewünschte Qualität zu den vereinbarten Kosten und in der vereinbarten Zeit geliefert wird. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Damit ist alles, was ein Bauprojekt effizienter macht, gut für die Marge.

Wie groß ist hierzulande das Potenzial für höhere Renditen am Bau?
Deutschland hat bei rund 400 Milliarden Euro Bauvolumen 20 Prozent Ineffizienz in der Wertschöpfung.

Im Durchschnitt hat Nemetschek seinen Umsatz während der vergangen fünf Jahre jährlich um ein Fünftel gesteigert. Bleibt es dabei?
Das Tempo wollen wir in unserem Planungszeitraum, also während der nächsten drei Jahre, in etwa halten. Mit eigenen Kapazitäten schaffen wir 13 bis 15 Prozent Wachstum, die weiteren Prozentpunkte liefern Firmen, die wir übernehmen.

Und im laufenden Jahr?
… planen wir beim Umsatz mit einem Plus zwischen 17 und 19 Prozent. Zukäufe bringen davon zwei bis vier Prozentpunkte.

Erwarten Sie eine weitere Konsolidierung in Nemetscheks Märkten?
In Europa und den USA hat sich der Markt konsolidiert und wird dies weiter tun. In Asien erwarten wir Zusammenschlüsse zu größeren Gruppen. Wir werden dort als weltweit zweitgrößter Anbieter einer der Konsolidierer sein. Die Märkte in China, Japan und Südkorea sind sehr verschieden. In China hängt viel davon ab, ob der BIM-Standard als relevant erkannt wird. Mit Graphisoft beraten wir die chinesische Regierung zum Thema BIM.

Welche Verschiebungen beim ­Umsatz strebt Nemetschek an?
Ideal wäre jeweils ein Drittel USA, Europa und Asien. In den USA haben wir das geschafft. Wir sind unabhängiger von der deutschsprachigen Region in Europa. Der Ausbau des Geschäfts in Asien funktioniert wie in den USA nur über Zukäufe.

Wie entwickelt sich die Rendite?
Bei der operativen Marge planen wir stabil mit 25 bis 27 Prozent. Inklusive der positiven Effekte aus der seit diesem Jahr vorgeschriebenen Anwendung des neuen Bilanzierungsstandards für Leasing sind es sogar 27 bis 29 Prozent. Weil wir sehr viel Geld in die Entwicklung und ­Internationalisierung investieren, ist es eine Herausforderung, diese Ebitda-Marge zu halten.

Warum investieren Sie so viel?
Um das hohe Umsatzwachstum zu fördern, aber auch um neue Software-Plattformen aufzubauen.

Was meinen Sie mit Plattformen?
Unser Ansatz sieht immer die gesamte Wertschöpfungskette für Architektur- und Ingenieurbüros, Bauunternehmen und Gebäudemanager. Gegenwärtig ist diese Kette noch stark zersplittert. Die Berufe arbeiten in Silos. Während der nächsten sechs bis acht Jahre wird die Wertschöpfungskette stärker digital vernetzt sein. In der Software sind erst dann Verbundlösungen, also Plattformen, wichtiger als Marken.

Was wird dann anders sein?
Nemetschek hat seine Struktur bereits darauf ausgerichtet. Seit Jahresanfang gibt es drei Einheiten: Design, Build und Manage, also Software für die Verwaltung von Objekten. Das sind die drei großen Plattformen, die wir erwarten. Wir werden aber nicht - wie es Wettbewerber tun - jetzt einfach eine Plattform auf dem Markt bringen, die dann niemand verwendet. Die Kunden nutzen Marken und denken noch nicht in Plattformen.

Wie wird die Entwicklung von ­Marken zu Plattformen verlaufen?
Was für den nächsten Schritt im Projekt notwendig ist, wird derzeit in ­einen Vorläufer der Plattformen überführt - im Fachjargon heißt das common data environment. Der Auftraggeber eines Projekts hat gern alle wichtigen Angaben eines Projekts in einem digitalen Hub: die 3-D-CAD-Modelle, die Projekt- und Zeitplanung, die Kostenkalkulation und die Dokumentation aller Veränderungen im Verlauf eines Projekts. Die verschiedenen Datenpools in den Hubs werden in sechs bis acht Jahren dann die Plattformen sein.

Warum dauert das so lange?
Weil der Nachholbedarf vor allem in der Bauindustrie enorm ist. Sie wären überrascht, wie wenig IT viele mittelständische Firmen hierzulande einsetzen. Bildlich gesprochen ist die IT-Welt der Branche Windows 95 und nicht das hohe Niveau der nächsten Generation des iPhone X. Unser Vorteil: Bei der Digitalisierung und bei der Verbesserung der Effizienz liegen riesige Potenziale, die man nur mit intelligenten Softwarelösungen heben kann.

Setzt Ihr Konkurrent RIB bereits auf Plattformen in der Cloud?
RIB ist ein Wettbewerber bei Bausoftware, einem Teil unseres Spektrums. RIB hat im Gegensatz zu uns keine horizontalen Verbindungen zu Design, also zu CAD-Software und zu Objektverwaltungssoftware. Das mag ein Grund sein, warum RIB mit der Cloud tiefer in den Beschaffungsprozess einsteigt.

Und Nemetschek?
Wir docken mit Blick auf BIM auch bei einzelnen Lieferanten, etwa beim Betonlieferantrn Knauff und beim Fensterspezialisten Schüco, an. Aber Nemetschek will für alle ­offen bleiben. Es gibt heute schon BIM-Bibliotheken. Weil Schüco bereits BIM-Inhalte zur Verfügung stellt, hat jedes Fenster, das sie im 3-D-Modell sehen, eine hohe Wahrscheinlichkeit, von Schüco zu sein.

Wo steht Nemetschek in dem ­Wettbewerb um Plattformen?
Wir sind weltweit der Einzige, der auch Programme zur Verwaltung von Objekten anbietet. Wir decken damit die Wertschöpfungskette und den Lebenszyklus eines Bauwerks komplett ab. Das sind sehr gute Voraussetzungen, um die besten Plattformen zu entwickeln.

Nemetschek übernimmt regelmäßig Firmen und hat inzwischen 16 Marken im Portfolio. Warum werden so viele Start-ups gegründet?
Die Ineffizienzen der Baubranche laden Firmen dazu ein, Neues zu entwickeln. Für uns sind sie erst relevant, wenn sie bei zehn bis 15 Millionen Euro Umsatz nachhaltig profitabel arbeiten. Als wir Bluebeam 2014 in den USA übernahmen, kam die Firma auf 28 Millionen Dollar Erlös.

Und heute?
Ist die Firma der wesentliche Faktor dafür, dass wir unseren USA-Anteil am Umsatz von elf auf über 30 Prozent erhöht haben. Bluebeams Software ersetzt in der Dokumentation das Papier durch das PDF-Format. Das hat weltweit Potenzial.

Kurzvita

Patrik Heider
Der 45-jährige Betriebswirt hat an der Fachhochschule in Konstanz studiert. Seit März 2014 ist Heider Sprecher des Vorstands und verantwortet dort zudem die Finanzen und die Strategie der Münchner Gruppe im operativen Geschäft. Vor seinem Einstieg bei Nemetschek war Heider als ­Finanzchef der Hoffmann Holding, eines weltweit bekannten Münchner Herstellers professioneller Werkzeuge, für die Akquisitionsstrategie der Firmengruppe verantwortlich.

Wachstumswert Nemetschek
Regelmäßige Zukäufe gehören für Nemetschek mit inzwischen 16 eigenständigen Marken zum Geschäft. Zuletzt wurde im Januar ein niederländischer Entwickler von Cloud-Programmen zur Verwaltung von Gebäuden, dem Facility Management, übernommen und in die neue Marke Spacewell inte­griert. Dank der Übernahme legte der Umsatz in der jüngst vorgelegten Bilanz für das zweite Quartal um gut 21 statt um 15 Prozent auf 138 Millionen Euro zu. Der Nettogewinn stieg um gut ein Fünftel auf 22 Millionen Euro zu. Langfristig aussichtsreiches Investment.