Die Anleger haben sich in diesem Jahr auf Energie-Aktien gestürzt, was die Kurse stark ansteigen ließ. Aber es gibt immer noch Schnäppchen in diesem Sektor. Eines davon ist der in Großbritannien ansässige Energieriese Shell.
Shell hat einige der attraktivsten Vermögenswerte im globalen Energiegeschäft, insbesondere das größte Flüssigerdgasgeschäft der Welt und das größte Tankstellennetz. Mit einem aktuellen Kurs von rund 60 Dollar werden die US-Aktien jedoch nur zum 6,5-Fachen des für 2022 erwarteten Gewinns von neun Dollar pro Aktie gehandelt. Der Kurs von Exxon Mobil (98 Dollar) entspricht dem Zehnfachen der für 2022 geschätzten Gewinne, während Chevron (176 Dollar) mit etwa dem knapp Elffachen der Gewinne gehandelt wird.
Shell könnte Maßnahmen ergreifen, um die Bewertungslücke zu schließen, indem es zum Beispiel das Unternehmen aufspaltet, wie es der aktivistische Investor Dan Loeb von Third Point gefordert hat. Bislang hat sich das Management von Shell dagegen gewehrt. Loeb schrieb kürzlich in einem Brief, dass "Shells Portfolio mit seinen unterschiedlichen Geschäftsbereichen, die von Tiefseeöl über Windparks und Tankstellen bis hin zu Chemiefabriken reichen, verwirrend und unübersichtlich ist".
Das Geschäft mit Flüssigerdgas (LNG) und die Tankstellen könnten zusammen 170 Milliarden Dollar wert sein. Sie machen damit den größten Teil von Shells Marktwert in Höhe von 222 Milliarden Dollar aus, obwohl diese Geschäftsbereiche nur 35 Prozent des Cashflows erwirtschaften. Dies geht aus einer Analyse von Mill Pond Capital hervor, einer Bostoner Investmentfirma, die Aktien des Unternehmens besitzt. Mill Pond bewertet Shell mit etwa 80 Dollar pro Aktie.
Der Konzern könnte auch eine viel höhere Dividende zahlen. Das Unternehmen hat seine Ausschüttung aufgrund der Corona-Pandemie im Jahr 2020 um 65 Prozent gekürzt. Die aktuelle Dividendenrendite von 3,4 Prozent ist mit der von Exxon (3,6 Prozent) und Chevron (3,2 Prozent) vergleichbar. Shell hält an einer konservativen Dividendenausschüttungs-Quote von 20 Prozent fest, basierend auf den für 2022 prognostizierten Gewinnen. Bei Exxon und Chevron liegt sie dagegen bei 35 Prozent.
Höhere Dividende gefordert
"Shell sollte die Dividende wieder auf das Vor-Corona-Niveau bringen", so Dan Farb, Geschäftsführer von Mill Pond. "Das würde sehr dabei helfen, die Glaubwürdigkeit des Managements bei den Anlegern wiederherzustellen und den Wert der Aktie zu steigern."
Vor Kurzem hat Shell die vierteljährliche Dividende für seine US-Aktien um vier Prozent auf 50 Cent pro Quartal erhöht. Damit folgt das Unternehmen seinem Plan, die Ausschüttung jährlich um vier Prozent anzuheben. Die vierteljährliche Ausschüttung beträgt jedoch trotz der Rekordgewinne nur etwas mehr als die Hälfte der Vor-Corona-Dividende von 94 Cent. Exxon und Chevron hielten ihre Dividenden während der Pandemie-Jahre konstant und haben sie seitdem angehoben.
Bei einer Dividende von 94 Cent pro Quartal würde Shell eine Rendite von 6,8 Prozent erzielen. Bei 75 Cent pro Quartal wären es 5,4 Prozent. In beiden Szenarien würde die Aktie wahrscheinlich deutlich höher notieren.
Laut Morgan-Stanley-Analyst Martijn Rats kann Shell eine höhere Dividende zahlen. Er schrieb kürzlich, dass der operative Cashflow von Shell 30 bis 40 Prozent höher ist als der von Chevron. Die jährliche Dividendenausschüttung von 7,5 Milliarden Dollar ist jedoch niedriger als die elf Milliarden Dollar von Chevron. Shell hat eine Nettoverschuldung von 48 Milliarden Dollar, mehr als Exxon oder Chevron. Man geht jedoch davon aus, dass Shell diese Schulden weiterhin schnell abbauen wird.
Rückkäufe werden ausgebaut
Das Unternehmen hat seine Aktienrückkäufe ausgeweitet. Es will in der ersten Jahreshälfte Papiere im Wert von 8,5 Milliarden Dollar zurückkaufen. Für das gesamte Jahr sind voraussichtlich 15 Milliarden Dollar vorgesehen. Zwar sind Rückkäufe angesichts der niedrigen Bewertung von Shell eine gute Nutzung der Barmittel, doch würden viele Anleger lieber eine höhere Dividende sehen.
Als eines der weltweit führenden Energieunternehmen produziert Shell etwa drei Millionen Barrel Öläquivalent pro Tag, genauso viel wie Chevron. Der Konzern übertraf im ersten Quartal mit einem Nettogewinn von 9,1 Milliarden Dollar sowohl Exxon als auch Chevron. Davon ausgenommen sind etwa vier Milliarden Dollar an Kosten im Zusammenhang mit russischen Vermögenswerten.
Noch mit Abschlag
Anleger könnten sich weigern, die Aktie nach einem Kursanstieg von 30 Prozent in diesem Jahr zu kaufen, aber Loeb stellte kürzlich in einem Brief fest, dass Shell "heute mit demselben stark herabgesetzten KGV gehandelt wird wie im letzten Jahr, was auf den Anstieg der Rohstoffpreise zurückzuführen ist".
Shell hat vergangenes Jahr einige anlegerfreundliche Maßnahmen ergriffen: Es hat sich von seiner umständlichen britisch-niederländischen Struktur befreit und seinen Sitz nach Großbritannien verlegt, das der klassischen Energiewirtschaft weniger skeptisch gegenübersteht als der Großteil Europas. Außerdem hat es seine Aktienstruktur geändert und bietet nur noch eine einzige Aktienklasse an. Das Unternehmen hat bis Redaktionsschluss nicht auf die Anfragen von Barron’s reagiert.
LNG heiß begehrt
Das erfolgreichste Geschäft von Shell ist das sogenannte integrierte Gasgeschäft. Das Unternehmen ist mit einem Marktanteil von zehn Prozent gemessen an der Produktionsmenge der weltweit größte Produzent von Flüssigerdgas. "LNG ist seit dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine ein sehr gutes Geschäft", erklärt Bernstein-Analyst Oswald Clint, der die US-Aktie mit "Outperform" und einem Kursziel von 76 Dollar bewertet. Die Aussichten für LNG sind gut, da Europa unabhängiger von russischem Gas werden will. Und die asiatische LNG-Nachfrage, vor allem aus China, wird in den kommenden Jahrzehnten wahrscheinlich stark steigen.
Shells Einzelhandelsgeschäft mit mehr als 46.000 Tankstellen und 12.000 Läden für den täglichen Bedarf könnte 40 Milliarden Dollar wert sein, ausgehend von den Bewertungen von Pure-Play-Unternehmen wie dem kanadischen Alimentation Couche-Tard, einem der weltweit größten Betreiber von Convenience Shops. Clint betont den hohen Wert des Einzelhandelsgeschäfts und ist der Meinung, dass Shells Unternehmensplattform ein "enormes Wachstumspotenzial" bietet.
Die Shell-Aktie ist im Vergleich zu Chevron und Exxon günstiger, weil das Unternehmen in Europa ansässig ist und von Klimaschützern stärker unter Druck gesetzt wird, sein Öl- und Gasgeschäft zurückzufahren. Der Konzern bemüht sich daher stärker um eine umweltfreundliche Ausrichtung als seine US-Konkurrenten. Die häufigen Äußerungen über seine Beteiligung an der "Energiewende" haben jedoch einige Anleger verunsichert, die sich am Öl- und Gasgeschäft beteiligen wollen und glauben, dass fossile Brennstoffe noch jahrzehntelang eine entscheidende Rolle bei der Deckung des weltweiten Energiebedarfs spielen werden.
Es spricht wenig dagegen, dass Shell sich mehr an den Aktionären orientiert und gleichzeitig umweltbewusst ist. Eine höhere Dividende wäre ein guter Anfang.
Übersetzung: Laura Markus Redaktion: Stephan Bauer
INVESTOR-INFO
Shell
Günstige Öl-Aktie
Die im Text erwähnten US-Aktien notieren in etwa doppelt so hoch wie die europäische Aktie. Die Dividende wurde hier im Mai mit 0,25 Dollar pro Aktie um einen US-Cent erhöht. Für 2022 wird insgesamt rund ein Dollar pro Aktie erwartet. Shell ist sowohl nach Kurs-Gewinn- wie auch nach Kurs- Buch-Verhältnis deutlich günstiger als die US-Ölkonzerne Chevron oder Exxon Mobil. Die Dividendenrendite ist etwas niedriger.
Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 33,00 Euro
Stoppkurs: 21,70 Euro
ExxonMobil
Großzügiger US-Riese
Mit 395 Milliarden Dollar Umsatz ist Exxon Mobil nach Schätzungen auch 2022 der größte Ölkonzern der USA und liegt knapp vor Shell mit 392 Milliarden Dollar Umsatz. Der operative Gewinn (Ebitda) soll mit 87 Milliarden Dollar ebenfalls höher liegen (Shell: 79 Milliarden). Im kommenden Jahr ist der erwartete Rückgang (auf 73 Milliarden) aber größer als bei Shell (auf 71 Milliarden). Höhere Dividendenrendite.
Empfehlung: Beobachten
Kursziel: 100,00 Euro
Stoppkurs: 68,00 Euro
Chevron
Margenstarke Amerikaner
Die Aktie des US-Energieriesen profitierte zuletzt von der Nachricht, dass US-Investor Warren Buffett über seine Beteiligungsholding Berkshire Hathaway zugekauft hat. Der im Vergleich zu Exxon Mobil und Shell mit geschätzt 222 Milliarden Dollar Umsatz im Jahr 2022 deutlich kleinere US-Konzern ist vergleichsweise stark im hochprofitablen Geschäft mit Flüssiggas, sogenanntem LNG. Das Unternehmen fährt auch aus diesem Grund mit knapp 29 Prozent operativer Marge 2022 im Vergleich zu den Konkurrenten (Shell: rund 20 Prozent, Exxon rund 22 Prozent) eine höhere Umsatzrendite ein.
Empfehlung: Kaufen
Kursziel: 195,00 Euro
Stoppkurs: 138,00 Euro