Thomas Ingenlath ist heute nicht mit dem Fahrrad ins Büro gekommen. "Es ist gestern zu spät geworden." In der Regel bewältigt der ehemalige Chefdesigner von Volvo die 45 Minuten von seinem Haus zum weiß strahlenden Polestar-Headquarter auf dem riesigen Werksgelände des schwedischen Automobilkonzerns westlich von Göteborg im Sattel. Angesichts eines Klimas, das einem in dieser Region oft nass und annähernd waagrecht entgegenkommt, vielleicht einer der Gründe, warum der geborene Rheinländer so drahtig wirkt. Es könnte aber auch an der Herausforderung liegen.

Ingenlath verantwortet seit drei Jahren eine neue Automarke - eine europäische und nicht börsennotierte -, die sich ganz auf E-Mobilität konzentriert. Er will die alteingesessenen Autoriesen überholen und mit Tesla in Wettbewerb treten, dem weit vorgepreschten Branchenliebling. Seine Strategie sind dezidiert sportliche, überraschend geräumige Fahrzeuge, die die Fachpresse mit "herausragenden Fahrleistungen und Dynamik" beeindrucken und das Thema Nachhaltigkeit weiter treiben als die Konkurrenz.

Zum Interview erscheint Ingenlath in schneeweißem Turtleneck zu schmal geschnittenem, taubenblauem Anzug und bittet in sein gläsernes Büro. Ausgestattet mit Konferenztisch, großem Bildschirm und kleinem Laptop, fehlen Insignien persönlichen Herrschaftsanspruchs. Beste Voraussetzungen für ein konzentriertes Gespräch.

€URO AM SONNTAG: Polestar hat sich aus der gleichnamigen Rennsportmarke entwickelt. Wie viel davon steckt noch in Polestar?

Thomas Ingenlath: Die Ausrichtung auf Elektromobilität war ein ziemlich radikaler Bruch. Aber weil wir immer noch recht klein sind, herrscht bei uns ein ähnlicher Spirit wie bei einer Truppe, die am kommenden Wochenende das nächste Rennen hat und bis dahin die anstehenden Aufgaben erledigt haben muss. Und wie bei einem Rennstall, der sich nicht auf planbare Erfolge ausrichten kann, muss jeder Mitarbeiter eine höhere Risikobereitschaft mitbringen als etwa zu Volvo. Wir haben ja keine Garantie, dass es klappt.

Dafür ist der Einsatz ziemlich hoch.

Das war ja klar: Diese neue Technologie zu entwickeln, wird ein Heidengeld kosten. Und wenn wir schon diese Investition machen, sollten wir sie nicht allein darauf verwenden, Volvo zu elektrifizieren. Sondern diesen Moment nutzen, etwas ganz Neues zu schaffen.

Aber nicht in einem Werk in Göteborg, sondern in Luqiao südlich von Shanghai.

Wir können ja nicht von Beginn an verschiedene Standorte haben. Wir sind eine junge Marke, die erst mal Volumen aufbauen muss. Ausschlaggebend für die Wahl des Fertigungsstandorts waren aber nicht günstigere Arbeitskräfte in China - so billig sind sie dort nämlich längst nicht mehr -, sondern dass sie dort verdammt gut komplexe Sachen bauen und wir auf Kapazitäten von Volvo zurückgreifen können. Deswegen sind unsere Autos im Moment "made in China", was die Produktion angeht. Aber das bedeutet nicht so viel. Was es bedeutet, ist der Zugang zum chinesischen Markt.

Der Gedanke an eine Zusammenarbeit mit der chinesischen Wirtschaft begleitet in der westlichen Welt oft eine unbestimmte Furcht. Können Sie die nehmen?

Nein, nehmen kann ich die nicht. Das ist ja eine psychologische Sache. Wir haben das eins zu eins in Schweden erlebt, als Volvo von Geely gekauft wurde. Was hat das hier für eine Welle geschlagen! Ein Kronjuwel der schwedischen Wirtschaft in chinesischer Hand. Doch die Furcht, dass Wissen und Arbeitsplätze abwandern, hat sich längst gelegt. Und es ist eine Win-win-Situation entstanden. Die Möglichkeiten, die sich Volvo dadurch boten, überwiegen jeden Nachteil, den man vielleicht erkennen könnte.

Für Ende des Jahres war eine Fusion von Volvo und Geely angekündigt, die jetzt nicht zustande gekommen ist. Wie bewerten Sie das?

Noch ist a) ja nicht Ende des Jahres, und b) wäre das eine Frage an (Volvo-Chef) Hakan Samuelsson. Ich bin da zu wenig involviert und habe auch genug mit unserem Geschäft zu tun. Wir haben sowieso beide an Bord. In welcher Relation die beiden zueinander stehen, hat auf uns keine direkte Auswirkung. Von daher verfolge ich das auch nur in den Medien, als dass es mein Gesprächsthema mit Hakan Samuelsson oder (Geely-CEO) Li Shufu wäre.

Kam das Go für den Polestar Precept, einen vollelektrischen Grand Tourer, der in drei Jahren gelauncht werden soll, von Hakan Samuelsson oder Li Shufu?

Per se von beiden. Aber so eine Entscheidung wird hier in Göteborg im Aufsichtsrat getroffen und abgesegnet. Das war schon bei Volvo so. Das Bild, dass Geely Volvo regiert und man für jede Entscheidung nach Hangzhou dackelt, stimmt ja nicht. Im Gegenteil: Es war fast beängstigend, wie man auf sich allein gestellt ist, im Guten und im Bösen. Aber natürlich laufe ich nicht mit einer Überraschung in den Aufsichtsrat. Wir haben vorher die Stimmung sondiert.

In Göteborg oder in Hangzhou?

Hakan und Li Shufo haben eine sehr ähnliche Vision für Polestar. Sie wollen diese Firma nicht nur als Sub-Brand von Volvo betreiben. Vielmehr sollen wir lernen - natürlich mit den Synergien, die es in einer Gruppe gibt -, auf eigenen Füßen zu stehen und eigenständige Entscheidungen zu treffen. Nur so kann Polestar den maximalen Mehrwert generieren. Überdies verfolgen beide die Idee, Polestar für den Funding Market zu öffnen, also Interessenten jenseits von Volvo und Geely an den Tisch zu bringen. Das ist auch notwendig, um den Schritt in die Eigenständigkeit nicht nur finanziell zu dokumentieren, sondern auch in der geistigen Haltung der Marke zu verankern.

Nachwachsende Rohstoffe und recycelter Kunststoff für den veganen Innenraum - für ein in China entstehendes Auto klingt die Richtschnur für den Precept ziemlich öko.

Ja, da konkurrieren wir mit Volvo (lacht). Aber es ist eine konsequente Entwicklung. Nach zwei Jahren war das Elektrothema für uns ja durch, eine Selbstverständlichkeit. Wenn wir heute auf Messen immer noch über Elektromobilität reden sollen, denken wir, come on, das ist doch für uns gesetzt. Wir fragen uns vielmehr, was die nächsten notwendigen Schritte sind.

In welche Richtung?

Ganz klar: eine CO2-Neutralität in der Mobilität zu erreichen. Und das fordert sehr viel mehr als nur einen elektrischen Antrieb.

Wird das nicht sehr teuer?

Diese Frage akzeptiere ich überhaupt nicht. Man muss sich vielmehr fragen: Wie teuer wäre es, das nicht zu machen? Die Antwort lautet, dass wir uns das gar nicht leisten können. Es ist der einzige Weg, wenn die Automobilindustrie überlebensfähig bleiben will. Und das ist überhaupt das Thema für alle westlichen Industrienationen. Wenn Schweden oder Deutschland nicht die ganz klare Agenda haben, in zehn bis 15 Jahren CO2-neutral zu werden, können wir es uns abschminken, führende Industrienationen zu sein. Jegliche Kosten, die durch CO2-Belastung kommen, werden alles andere erschlagen.

Ist das jetzt ein wirtschaftliches Argument? Oder redet hier auch der Vater von drei Kindern?

Sicher auch. Bloß: Davon kann ich ja nicht die Geschicke von Polestar abhängig machen. Die moralische Komponente wäre sehr schwer argumentierbar, wenn ich einen Businessplan vorlege. Dennoch wird mit jedem Monat immer klarer: Das Geschäft mit Verbrennungsmotoren wird in absehbarer Zeit unerträglich teuer. Die Strafen für CO2-Belastung oder der Aufwand, den Motor irgendwie sauberer zu bekommen, werden mögliche Kostenvorteile gegenüber E-Autos auffressen. Gleichzeitig kehren sinkende Batteriepreise das Spiel in den nächsten vier, fünf Jahren um. Es wird teurer sein, einen Verbrenner im Markt zu halten, als ein neues Elektroauto zu bauen. Und jetzt reden wir nur über den Antrieb. Was wir zudem propagieren und mit dem Precept umsetzen wollen, ist Nachhaltigkeit schon bei Sourcing und Herstellung.

Bleibt vollelektrischer Antrieb mittelfristig alternativlos?

Aus heutiger Sicht ist es der einzig geeignete. Der Elektromotor war ja schon vor 100 Jahren der bessere Motor. Nur wusste man damals noch nicht, wie man ihn versorgt. Inzwischen geht das mit Batterien recht gut und es wird immer besser. Ob es irgendwann für Privat-Pkw eine geeignete Alternative gibt, vielleicht Wasserstoff, wird man sehen. Da ist das Rennen offen.

Das klingt ein bisschen genervt.

Eines ist doch klar: Die Autoindustrie kann sich nicht permanent in der Diskussion verheddern, was denn die Technologie der Zukunft sein könnte. Für die Kunden muss ein ganz klares Bekenntnis zum batteriebetriebenen Elektromotor her. Tesla hat das ja vorgemacht. Wenn jemand 50.000 Euro für ein Auto ausgeben soll, dürfen ihn die Hersteller doch nicht mit der Überlegung irritieren, ob vielleicht irgendwann mal Wasserstoff kommt. Da muss man auch mal Butter bei die Fische tun und sagen, so machen wir das jetzt für die nächste Generation.

Wie lange wird es überhaupt noch Autos geben?

Ganz schön lange. Da mache ich mir überhaupt keine Sorgen: Die Frage ist, wie oft sie benutzt werden. Da bin ich ein Paradebeispiel. Ich fahre ja auch nicht jeden Tag mit dem Auto rum. Ich genieße jeden Tag, wo ich das nicht muss. Aber das heißt nicht, dass ich kein Auto brauche. Es gibt immer wieder Situationen, wo ich ins Auto springen will. Wer in einer dicht besiedelten Innenstadt lebt, muss vielleicht kein Auto besitzen. Dass es dann andere Formen gibt, den Individualverkehr zu organisieren, ist ja keine Frage. Aber kommen sie mal nach Schweden. Hier ist man immer noch abhängig vom Auto. Und es ist ja auch immer noch ein emotionales Produkt.

Warum sollte ich für 58.000 Euro einen Polestar kaufen und nicht ab und an einen mieten?

Ach, wenn Sie einen mieten wollen, ist mir das auch recht. Das ist ja eine Frage des persönlichen Geschmacks, ob Sie das Auto kaufen, leasen, mieten oder als Teil der Shared Mobility nur ab und zu nutzen wollen. Wir sind relativ offen und partizipieren in all diesen Geschäftsmodellen.

Und bekomme ich dann neidische Blicke von Tesla-Fahrern?

Nicht nur von denen. Wir bieten Fahrzeuge an, die Kunden von Porsche oder BMW einen zweiten Blick abverlangen.

Wie sehen Sie Ihre Marktperspektive gegenüber Ihrem Mitbewerber Tesla?

Das hängt ein bisschen von ihm ab. Tesla bewegt sich gerade stark und expandiert in die Breite, weil sie Masse machen wollen. Das geht immer mehr in Richtung Volkswagen als in Richtung Premiummarkt, wie wir es tun. Da ist Tesla auf einer anderen Reise.

Polestar macht nie Mittelklasse?

Nein, das haben wir zumindest im Augenblick nicht vor. Wir haben eine Marke geschaffen, die ein bisschen extravaganter, sportlicher und vielleicht auch egozentrischer ist als Volvo, also nicht unbedingt auf die Familie fokussiert. Der Polestar 2 wird das Fundament dieses Portfolios sein und hat das Zeug, richtig gute Stückzahlen zu machen.

Ab wie viel verkauften Fahrzeugen wäre der Polestar 2 ein Erfolg?

Die Messlatte haben wir bei 50.000 Einheiten pro Jahr gesetzt. Das ist eine Marke, die wir knacken wollen, aber noch nicht im nächsten Jahr. Vorher wollen wir das Angebot noch ein bisschen spreizen. Aber hoffentlich 2022.

Da sind Sie deutlich bescheidener als Tesla, dessen Model 3 sich 2020 lässig 300.000 Mal verkauft.

Aber Tesla ist auch schon zwölf Jahre unterwegs. Wir haben schon auch anspruchsvolle Ziele. Aber wir sind auch nicht vermessen. Mit einer so jungen Marke muss man schon etwas Geduld mitbringen.

Sind Sie als Hersteller, der ohne Historie mit fossilen Rohstoffen gleich auf elektrischen Antrieb setzt, wettbewerbsmäßig im Vorteil?

Na ja, some you win, some you loose. Der Korb ist sehr gemischt. Selbstverständlich haben wir den riesigen Vorteil, uns auf bestimmte Dinge konzentrieren zu können. Das merken wir auch im Vergleich mit Volvo: Firmen, bei denen E-Autos nur einen Teil der Produktpalette darstellen, brauchen deutlich länger, um zu dieser oder jener Erkenntnis zu kommen. Andererseits haben wir als Elektrofirma zunächst den Nachteil, dass unser Marktanteil nur einen geringen Prozentsatz ausmacht. Wir spekulieren natürlich darauf, dass sich dieses Verhältnis in den nächsten Jahren rasant ändern wird. Andererseits betreffen uns in diesem Stadium konjunkturelle Aufs und Abs noch nicht so direkt. Unser Wachstumsmarkt ist der existierende riesige Markt für Verbrennungsmotoren. Ob der momentan geringfügig größer oder kleiner wird, ist für uns fast irrelevant, weil unser Markt noch so klein ist.

Apropos Markt: Haben Sie ein paar Geely-Aktien im Portfolio?

Nein, und Sie sind der Allererste, der mir diese Frage stellt. Und ich mir selbst auch nie. Erstaunlich.

Und Papiere von anderen Automobilkonzernen?

Ich muss überlegen. Ja, in der Tat habe ich aus meinen VW-Zeiten noch sehr bescheidene drei, vier Vorzugsaktien. Das erinnere ich aber nur, weil ich ab und zu einen Brief bekomme, wer sie aktuell gerade verwaltet.

Geldanlage ist offenbar nicht so Ihr Thema, oder?

Nein. Diese Dinge übernimmt meine Frau.
 


Vita:

Der Geschmacksmensch

1964 in Krefeld geboren, studierte Thomas Ingenlath Gestaltung in Pforzheim und London und diente ab 1995 in den Designabteilungen von Audi, Volkswagen und Skoda. 2006 übernahm er die Leitung des Volkswagen Design Centers in Potsdam. 2012 ging er als Chefdesigner zu Volvo und wechselte fünf Jahre später als CEO zum Elektroautohersteller Polestar. Ingenlath lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Göteborg.
 


Polestar

Der Tesla-Herausforderer

Der von Beginn an ganz auf Elektroantrieb setzende, 2017 an den Start gegangene Hersteller gehört zur schwedischen Traditionsmarke Volvo, die der chinesische Milliardär Li Shufu 2010 seinem Automobilkonzern Geely mit Sitz in Hangzhou einverleibt hatte. Die Fahrzeuge werden in Luqiao südlich von Shanghai produziert, wo Volvo unter anderem seinen SUV XC40 bauen lässt. Der Neuling brachte zunächst in limitierter Auflage den auf einer Coupé-Studie von Volvo beruhenden Polestar 1 auf den Markt, dem in diesem Sommer der von der Fachpresse als Angreifer des Tesla 3 identifizierte, sehr sportliche Polestar 2 folgte. Für 2021 ist der Elektro-SUV Polestar 3 angekündigt, 2023 soll der ursprünglich als Nachhaltigkeitsstudie vorgestellte Polestar Precept ausgeliefert werden.