Kugellager von Schaeffler mit einem Außendurchmesser von drei Metern treiben inzwischen fast jedes zweite Windrad weltweit an. Ebenso das London Eye, das große Riesenrad in der Skyline von Großbritanniens Hauptstadt. Die Präzision der Produkte des Unternehmens ist weltweit gefragt.

Von der Autobahn über Nieder- und Hauptendorf zur Ostpforte der Firmenzentrale im mittelfränkischen Herzogenaurach fährt man durch idyllische, ländliche Landstriche. Erst kurz vor Ende der Fahrt kommt der Weltkonzern in Sicht. Für die Autobranche und für Anlagen in vielen Industrien ist die Firmengruppe von Maria-Elisabeth Schaeffler und ihrem Sohn Georg Friedrich Wilhelm als Entwickler von Produkten wie Präzisionslager, Kupplungen oder Komponenten für Nockenwellen in Motoren eines von Deutschlands größten Zulieferunternehmen.

Die große Dynamik durch Elektromobilität und später voraussichtlich auch durch Wasserstofftechnologie verändert die Märkte des Familienkonzerns mit mehr als 83 000 Beschäftigen deutlich. An der Börse befürchten Investoren deshalb, dass Schaeffler durch den Wegfall mechanischer Komponenten für herkömmliche Verbrennermotoren ins Hintertreffen gerät.

€URO AM SONNTAG: Herr Rosenfeld, im Oktober 2015 haben Sie Schaeffler, weltweit bekannt mit Marken wie LUK-Kupplungen und den Speziallagern von Ina und FAG, an die Börse gebracht. Wie hat sich das Familienunternehmen seither verändert?
KLAUS ROSENFELD: Zum Börsendebüt waren wir ein großer Automobilzulieferer mit einer angeschlossenen, leicht schwächelnden Industriesparte. Heute ist Schaeffler ein Automobil- und Industriezulieferer mit einer gleichberechtigten starken Industriesparte und deckt mit dieser Aufstellung zehn verschiedene Sektoren ab. Das Automobilzuliefergeschäft mit rund 60 Prozent von zuletzt fast 13 Milliarden Euro Umsatz ist inzwischen in die Bereiche Pkw und Lkw gegliedert, um stärker in den beiden Welten des Fahrzeugbaus präsent zu sein. Dabei legen wir großen Wert darauf, die Auto- und die Industriesparte über gemeinsame Technologien zu verbinden.

Warum?
Wir sind überzeugt, dass wir den Wandel durch Entwicklungen wie Elektromobilität, Wasserstoff und Digitalisierung sowohl im Unternehmen als auch bei den Produkten so besser und mit höheren Margen bewältigen werden. Schaeffler kommt aus einer Welt, die früher sehr zentral organisiert war.

Was vermutlich schon 2015 vor dem IPO nicht mehr funktionierte.
Die Umstellung hat gedauert. Je breiter Schaefflers Aufstellung wurde, desto schneller war klar, dass eine zentralistische Organisation nicht mehr passt. Daraus entstanden die Sparten Automotive, Industrie und Aftermarket für Ersatzteile und das Services-Geschäft. Am Kapitalmarkt ruft das gelegentlich Investmentbanker auf den Plan, die uns vorrechnen, dass die Sparten nicht ausreichend hoch bewertet sind, und vorschlagen, dass die Gruppe aufgeteilt werden sollte. Für uns ist es wichtig, dem Kapitalmarkt klar zu machen, wo die Stärken des Verbunds liegen. Den Plan dafür hatten wir schon im März 2020 erstellt.

Dann kam Corona.
Rückwirkend betrachtet hat die Pandemie dem Strategieprozess nicht geschadet, im Gegenteil. Wir konnten unsere Roadmap 2025 im Krisenmodus testen und haben an einigen Stellen nachgeschärft. Dabei haben wir vor allem mehr Potenziale für Synergien ausgemacht.

Gab es Bereiche, die nicht mehr ins Konzept passten?
Ja, aber nicht im größeren Umfang. Wir schauen vor allem, wo wir wachsen können. Mit zwölf Wachstumsfeldern ist Schaeffler für den Wandel in der Automobilbranche und in den verschiedenen Industrien gut vorbereitet.

Sind für die Vernetzung der Sparten denn Plattformen notwendig?
Ich würde es nicht als Plattformen bezeichnen, es sind gemeinsame Technologien und Kompetenzen. Kugel- und Wälzlager der Schaeffler Gruppe, die in den unterschiedlichsten Anwendungen eingesetzt werden, liefern weiterhin mehr als 40 Prozent des Konzernumsatzes. Lager werden auch nach der Transformation unserer Märkte durch Elektromobilität und Wasserstoff gebraucht und in den Sparten mit der gleichen Technologie hergestellt.

Wie kommt Schaeffler bei Wasserstoff ins Spiel?
Zur Herstellung von Wasserstoff in Anlagen mithilfe der sogenannten Elektrolyseure sind Bipolarplatten in Stapeln notwendig. Die Platten sind die elektrische Verbindung der Zellen, sie übernehmen die Gasverteilung über ihre Fläche und sind auch die Trennwände zu anderen Zellen. Damit sind Bipolarplatten ein zentrales Element in Brennstoffzellen und in den Elektrolyseuren zur Herstellung von Wasserstoff. Schaeffler kann dünne Metallplatten herstellen und beschichten. Wir haben die Werke, die Werkzeuge, das Material und das Verständnis, um die Platten mit hoher Präzision und in großen Stückzahlen zu fertigen. Als großer Einkäufer von Stahl in verschiedenen Varianten wollen wir zudem viel von der Herstellung des kohlendioxidarmen grünen Stahls verstehen, um auch um hier Geschäftsmöglichkeiten auszuloten.

Wie schnell wird sich Wasserstoff in Schaefflers Märkten durchsetzen?
Bei Autos erwarten wir keinen schnellen Wechsel zu Wasserstoff, bei Lkws und in verschiedenen Industrien wird sich Wasserstoff viel schneller durchsetzen. Aber auch als Autozulieferer setzen wir längst nicht mehr alles auf den Verbrennungsmotor. Es ist Zeit für die E-Mobilität und später für Wasserstoff.

Was erwarten Sie bei Elektromobilität?
Wir haben früher als andere gesagt, dass wir bei Antrieben in neuen Autos im Jahr 2030 rund 30 Prozent Elektro, 40 Prozent Hybrid und nur noch 30 Prozent Verbrenner erwarten. Dafür müssen die E-Autos erschwinglich sein und über ausreichende Reichweite verfügen. Im Verkehrsnetz müssten europaweit genügend einfache und schnelle Lademöglichkeiten zur Verfügung stehen. Die Infrastruktur ist aus unserer Sicht bisher der größte Bremsklotz. Und bei Elektroautos, die mit Strom aus Braunkohle betrieben werden, geht die Klimaschutz-Rechnung nicht auf. Klimaschutz ist das entscheidende Thema des Jahrzehnts, dem sich die Welt stärker widmen muss. Hier müssen wir schneller vorankommen.

Schaeffler benötigt sehr viel Stahl. Seine Herstellung gehört zusammen mit der Zementbranche zu den Segmenten mit den größten Emissionen von Kohlendioxid. Grüner Stahl, der mit regenerativen Energien und Wasserstoff klimafreundlich hergestellt wird, dürfte daher ein Top-Thema bei Ihnen sein.
Wir wollen unsere Produktion bis 2030 klimaneutral machen. Das Ziel, dies als großer Stahlabnehmer auch bei den Vorprodukten und eingekauften Materialien zu erreichen, ist anspruchsvoller. Dafür müsste grüner Stahl in ausreichenden Mengen und Qualitäten verfügbar sein. Bei dem auf der herkömmlichen Hochofenroute hergestellten Stahl kann der Anteil des Kohlendioxids zum Beispiel über Direktreduktionsverfahren mit Einsatz von Wasserstoff verringert werden. Auch durch mehr Recyclingstahl lässt sich viel erreichen. Wir kaufen jährlich 1,2 Millionen Tonnen Stahl ein. Das ist mehr als 60 Prozent unseres Einkaufsvolumens. Klimaneutralität wird nur funktionieren, wenn wir das Thema technologieorientiert von mehreren Seiten angehen.

Zum Beispiel?
Kaltbandstahl, der mehr Kohlendioxid mit sich bringt als Warmbandstahl, kann präziser verarbeitet werden. Wir müssen neue Werkzeuge entwickeln, um ähnlich gute Ergebnisse auch mit Warmbandstahl zu erreichen.

Mit Bipolarplatten in Elektrolyseuren für den Wasserstoff bei grünem Stahl liefern Sie wesentliche Komponenten.
Zusätzlich zu den Platten suchen wir nach weiteren Möglichkeiten, um unser Geschäftsmodell mit Produkten für Wasserstofftechnologien zu erweitern. Warum nicht Teile für Elektrolyseure für die Herstellung von grünem Stahl liefern und dafür von den Konzernen im Gegenzug einen Teil ihres klimafreundlichen Stahls bekommen?

Welches Umsatzpotenzial mit Wasserstoff trauen Sie Schaeffler mittelfristig zu?
Aktuell ist das noch schwer zu sagen. Ein dreistelliger Millionenbetrag ab 2030 ist möglich. Die meisten unserer mechanischen Komponenten werden weiterhin benötigt. Das ist eine gute Absicherung.

Im Mai haben Sie die Jahresziele erhöht, befürchten jedoch im laufenden Quartal Auswirkungen durch chipbedingte Produktionsunterbrechungen bei den Autobauern. Ist da Entspannung in Sicht?
Die Unsicherheiten bestehen weiter. Schaeffler selbst ist von Engpässen bei den Chips direkt nicht stark betroffen. Chips machen bei uns vier bis sechs Prozent des Einkaufsvolumens aus. Wir erwarten, dass die weltweit 82 bis 83 Millionen Autos, für die wir in diesem Jahr die Teile liefern, vom Band rollen werden.

Wird Schaeffler bei neuen Produkten wie den Elektroachsen für Audis E-tron und Porsches Taycan künftig auch Software entwickeln?
Die E-Achse besteht aus den mechanischen Komponenten, dem Elektromotor und der Leistungselektronik. Die Leistungselektronik kaufen wir zum Teil zu. Der Kapitalmarkt sagt, wenn man alle drei Bereiche - also das System 3 in 1 - anbietet, braucht man auch Softwarelösungen. Wir haben diese Kompetenz und wissen, was wir zukaufen müssen, damit die Achse funktioniert.

Sie wollen Technologien über die Sparten hinweg verbinden. Sind dafür Partnerschaften mit großen Chipherstellern, etwa mit Infineon, dem größten Hersteller von Leistungshalbleitern, eine Option?
In der Leistungselektronik arbeiten wir mit unterschiedlichen Partnern gut zusammen. Im Hochvolt-Bereich entwickeln wir zunehmend auch eigene Lösungen. Einige unserer Wettberber haben das anders gelöst.

Die Schaefflers sind Großaktionäre des Autozulieferers Continental. Wäre der Kauf der Conti-Abspaltung Vitesco für Sie eine Option?
Eine große Übernahme in der Leistungselektronik ist für uns aktuell keine Option.

Welche Rolle spielen Zukäufe in Ihrer Strategie?
Bei großen Zukäufen sind wir aus Erfahrung sehr vorsichtig. Wir haben einen M & A-Radar für kleine und mittelgroße Zukäufe in sieben verschiedenen Feldern aufgebaut. Wir wollen Firmen mit aussichtsreichen Technologien, die wir schnell wertsteigernd integrieren können.

Wie lief das bisher?
Ein Beispiel aus der Elektromobilität: Ein Elektromotor besteht aus drei wesentlichen Komponenten. Rotor und Stator stellen wir bereits her. Beide bestehen aus vielen dünnen, übereinandergeschichteten Metallplatten. Was uns fehlte, war die Wickeltechnologie. Wir erwarben mit Elmotec ein Unternehmen, das Wickelmaschinen herstellt. Damit sind Elektromotoren, die bei Elektroautos verbaut werden, heute eine Kernkompetenz. Der Kauf von Elmotec war wichtig und hat uns sehr viel gebracht.

Seit dem IPO ist nur ein Viertel des Stammkapitals als Vorzugsaktien verfügbar. Ein Viertel davon ist zudem im Besitz des US-Value-Investors BDT Capital. Institutionelle Anleger wünschen sich eine bessere Handelbarkeit der Aktie.
Wir sind mit dem Modell "Vorzugsaktien und 25 Prozent Freefloat" an die Börse gegangen. Vonseiten der Eigentümer gibt es keine Überlegungen, das zu ändern. Das Engagement von BDT Capital sehen wir positiv.

Was hat sich durch die Börsennotierung seit 2015 verändert?
Vom Kapitalmarkt bekommt Schaeffler Impulse für die Strategie, für die Performance und für die Transparenz des Unternehmens. Der Börsengang im Jahr 2015 war deshalb aus meiner Sicht eine zu einhundert Prozent richtige Entscheidung. Der Kapitalmarkt ist für unseren Konzern wie ein permanentes Fitnessprogramm.

Schaeffler baut bis Ende 2022 rund 4400 Stellen ab, einen erheblichen Teil davon in Deutschland. Ist das schwierige Thema jetzt abgehakt?
Wir haben von 2018 bis 2020 knapp zehn Prozent der Belegschaft abgebaut. Die 4400 Stellen in Deutschland, die wir angekündigt haben, kommen dazu. Die Verhandlungen sind abgeschlossen. Das ist uns ohne größere Auseinandersetzung gelungen, weil wir den Mitarbeitern neue Perspektiven bieten. Ganz bewusst werden wir ausgewählte Standorte, neben Herzogenaurauch vor allem auch Bühl und Schweinfurt, stärken.

Aber Schaeffler sagt, man will den Kunden nach Asien folgen ...
Natürlich ist es so, dass wir unsere Produktion in Asien, aber auch in Amerika mit Blick auf die Kunden und den Vertrieb weiter ausbauen. Die Verhältnisse zwischen Amerika, Europa und Asien werden sich entsprechend verändern.

Und Deutschland?
Deutschland bleibt das Zentrum für unsere technologische Weiterentwicklung. Die Frage, wie viel von der Produktion in Deutschland gehalten werden kann, hängt auch von politischen Rahmenbedingungen ab. Solange wir hier Geld verdienen können, sehe ich keine radikalen Einschnitte. Gleichzeitig wissen wir, dass wir uns die Zukunft immer wieder neu erarbeiten müssen.

Vita
Klaus Rosenfeld (54) ist seit 2013 Chef der Schaeffler AG. Im Oktober 2015 führte der gelernte Banker den Familienkonzern aufs Parkett. Im Jahr 2009 verhandelte der damalige Finanzvorstand Rosenfeld erfolgreich mit Banken und rettete Schaeffler. Während der Finanzkrise war Schaeffler mit der Übernahme Contis gescheitert. Kürzlich absolvierte Rosenfeld seinen jährlichen Triathlon: 1,5 Kilometer schwimmen, 40 Kilometer Rad fahren, zehn Kilometer laufen.

Die Aktie
Schaeffler liefert global jedes zweite bis dritte Großlager für Windräder. Für E-Autos entwickelt der Konzern aus Franken E-Achsen, einschließlich der Elektromotoren für den Antrieb. Wasserstoff könnte ab 2030 beim Umsatz dreistellige Millionenbeträge liefern. Für 2021 erwarten Analysten rund 14 Milliarden Euro Erlös, knapp zwölf Prozent mehr. Aktie mit attraktiver Dividende. Bisher sind allerdings nur 25 Prozent des Stammkapitals als stimmrechtlose Vorzugsaktien an der Börse. Das schränkt den Handel der Aktie für große, institutionelle Anleger ein und damit auch die Kursfantasie der Papiere.