Der Dax-Konzern sieht sich selbst als Betrugsopfer. Weil es nun erst einmal keinen Jahresabschluss 2019 geben wird, können Banken in den nächsten Tagen Kredite in Milliardenhöhe fällig stellen. An der Börse herrschte regelrechte Panik - die Aktien brachen zeitweise um 67 Prozent auf 35 Euro ein.
"Alle Beteiligten sind um schnellstmögliche Aufklärung bemüht", sagte Braun. "Ob betrügerische Vorgänge zum Nachteil der Wirecard AG vorliegen, ist derzeit unklar." Der Konzern werde noch im Tagesverlauf Anzeige gegen unbekannt erstatten. Konkret geht es darum, dass Wirtschaftsprüfer von EY, die die Bilanzzahlen des vergangenen Jahres geprüft hatten, keine Hinweise auf die Existenz von Guthaben über 1,9 Milliarden Euro bei zwei asiatischen Banken gefunden haben, wie Wirecard mitteilte. Die Summe entspreche einem Viertel der Bilanzsumme. Es gebe Hinweise, dass dem Abschlussprüfer von einem Treuhänder beziehungsweise von Banken, die die Treuhandkonten führten, falsche Saldenbestätigungen zu Täuschungszwecken vorgelegt worden seien, teilte Wirecard mit. Damit solle ein falsches Bild erzeugt worden sein über das Vorhandensein der Guthaben.
Der Konzern aus dem Münchener Vorort Aschheim steuert nicht nur das bargeldlose Bezahlen via Smartphone oder Kreditkarte an der Ladenkasse und in Online-Shops, sondern übernimmt auch für Händler das Ausfallrisiko von Zahlungen. Zur Absicherung dieser Geschäfte zahlt Wirecard Gelder auf Treuhandkonten ein, die nach erfolgreichem Abschluss wieder zurückfließen. 2019 hatte Wirecard den Treuhänder gewechselt. Die beiden Banken, mit denen dieser zusammenarbeite und die nun im Fokus stehen, verfügten über gute Ratings und hätten auch zahlreiche andere Mandate in Asien, erklärte Wirecard.
"ES KANN NOCH SCHLIMMER WERDEN FÜR WIRECARD"
Die Fondsgesellschaft Deka, einer der Großinvestoren des Konzerns, erneuerte ihre Forderung nach einem Rücktritt Brauns. "Wir sind fassungslos", sagte Ingo Speich, Leiter des Bereichs Corporate Governance bei der Deka. "Ein personeller Neuanfang ist dringender denn je." Es bleibe zu hoffen, dass der erneute Vertrauensentzug am Kapitalmarkt nicht auch noch Auswirkungen auf das operative Geschäft habe. Davor warnte auch Chefanalyst Robert Halver von der Baader Bank. "Es muss endlich Klarheit her, sonst wird das Unternehmen großen Schaden nehmen. Es kann noch schlimmer werden für Wirecard, wenn jetzt die Kunden abspringen."
Probleme könnte Wirecard nun mit seinen Banken bekommen. Wenn ein testierter Jahres- und Konzernabschluss nicht bis zum 19. Juni vorgelegt werde, könnten Darlehen in Höhe von circa zwei Milliarden Euro gekündigt werden, erklärte der Konzern. Ein neuer Termin für die Vorlage des Jahresabschlusses stehe noch nicht fest. Eigentlich hätte der Geschäftsbericht bereits im April vorgelegt werden sollen.
Wirecard wurde in Medienberichten in den vergangenen Jahren immer wieder Bilanzfälschung vorgeworfen. Der Konzern hat das stets bestritten. Eine vom Aufsichtsrat in Auftrag gegebene Sonderprüfung durch KPMG sollte die Vorwürfe aus dem Weg räumen, die Prüfer konnten aber einige der Vorwürfe nicht entkräften. Darüber hinaus ermittelt die Staatsanwaltschaft München gegen Braun und seine drei Vorstandskollegen wegen des Verdachts auf Marktmanipulation. Die Finanzaufsicht BaFin prüft mögliche weitere Vergehen. Beide Behörden wollen die aktuellen Entwicklungen in ihre Untersuchungen einfließen lassen, wie Sprecherinnen von BaFin und Staatsanwaltschaft sagten.
KURSSTURZ BEI WIRECARD IST FÜR LEERVERKÄUFER DER JACKPOT
Das Wetten auf fallende Kurse bei Wirecard haben sich für Spekulanten am Donnerstag kräftig ausgezahlt. "Ich habe gerade ein Vermögen gemacht", sagte ein Händler. In nicht einmal einer halben Stunde habe er 750.000 Euro verdient. Seit Jahren sieht sich das Unternehmen Vorwürfen der falschen Bilanzierung gegenüber, weswegen immer mehr Investoren auf fallende Kurse wetteten. Zeitweise hatte die Finanzaufsicht Bafin im vergangenen Jahr sogar ein Verbot auf sogenannte Leerverkäufe ausgesprochen, was aber wieder aufgehoben wurde.
Bei diesen Geschäften wetten Anleger auf einen Kursverfall einer Aktie. Dabei verkaufen sie Wertpapiere, die sie sich zuvor gegen eine Gebühr leihen. Sinkt der Preis bis zum Rückgabe-Datum, können sie sich billiger mit den Titeln eindecken und streichen die Differenz ein. Steigt der Kurs dagegen, droht den Leerverkäufern Verlust. Bei Wirecard war nach Angaben des Händlers diese Leihe zuletzt wegen der riesigen Nachfrage schwer möglich und sehr teuer gewesen. Leerverkäufer zahlten am 16. Juni einen Aufschlag von 17,5 Prozent, um Wirecard-Aktien zu leihen, einen der höchsten in Europa, wie Daten des Branchendienstes FIS Astec Analytics zeigen. Demnach waren zu diesem Zeitpunkt mehr als 16 Prozent der verfügbaren Wirecard-Aktien ausgeliehen. "Die Short-Positionen wurden aufgebaut, bis zu dem Punkt, an dem vorige Woche die Leihe unmöglich wurde", sagte Händler Mark Taylor vom Broker Mirabaud.
WIRECARD DROHT AUS IM DAX
Sollte sich die Wirecard-Aktie vom Kurseinbruch bis September nicht nachhaltig erholen, droht der Rauswurf aus der ersten Börsenliga. Zu diesem Schluss kommen Index-Experten nach dem Kursrutsch von Wirecard am Donnerstag. Als Nachfolger dürften sich der Aromen- und Duftstoffhersteller Symrise und der Online-Essenslieferanten Delivery Hero , einer der großen Profiteure in der Corona-Krise, ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern. Die nächste Index-Überprüfung der Deutschen Börse steht am Donnerstag, 3. September an. Umgesetzt werden etwaige Änderungen dann zum Montag, 21. September. Wichtig sind Index-Änderungen vor allem für Fonds, die Indizes exakt nachbilden. Dort muss dann entsprechend umgestellt werden, was Einfluss auf die Aktienkurse haben.
AUCH WIRECARD-ANLEIHE UNTER DRUCK
Von dem Desaster rund um die erneute Verschiebung des Jahresabschlusses nicht nur die Wirecard-Aktie betroffen: Von dem Unternehmen gibt es auch eine Anleihe (ISIN DE000A2YNQ58). Und dieses Papier rauscht am Donnerstag ebenso kräftig in die Tiefe und verliert rund die Hälfte an Wert. Bei der eher als sicher geltenden Assetklasse Anleihen sind solche Verluste die absolute Ausnahme.
Hinter dem Verfall steht wohl die Befürchtung der Investoren, dass Wirecard am Ende die Anleihe nicht mehr bedienen kann, also ein Zahlungsausfall bevorstehen könnte. Diesbezüglich dürfte auch bald von der Ratingagentur Moody´s ein Zeichen kommen: Die Agentur hatte die Bonität von Wirecard Anfang Juni zwar weiterhin mit "Baa3" eingestuft, aber den Ausblick auf "negativ" gestellt. "Das Baa3-Emittentenrating von Wirecard wurde am 2. Juni 2020 auf Überprüfung für eine Herabstufung gestellt, basierend auf den anhaltenden Unsicherheiten im Zusammenhang mit den Vorwürfen bezüglich betrügerischer Bilanzierungspraktiken und Konzentrationsrisiken auf Dritt-Acquirer mit wiederholt verschobener Veröffentlichung der geprüften Jahresabschlüsse für 2019" so Moody´s zur Begründung. Diese Unsicherheiten haben sich nun aber nochmals erhöht, deshalb dürfte die Herabstufung kommen. Damit würde Wirecard aber sein Investment-Grade-Rating verlieren und in den zweitklassigen und riskanten Junk Bond-Bereich absteigen. "Baa3" ist nämlich bei Moodys die unterste Investment Grade-Stufe.
rtr/dpa-AFX/mf/fh