Wann säen, wann die Ernte einfahren? Landwirte, Winzer, Reisbauern und Kaffeepflanzer versuchen das Prognoseproblem mithilfe von Regeln zu lösen. Diese sind zwar meist in triviale Reimformen gefasst, fußen jedoch auf langjährigen Beobachtungen - und weisen mitunter erstaunlich hohe Trefferquoten auf. Der Bauernregel "September schön in den ersten Tagen, will den ganzen Herbst ansagen" etwa bescheinigen Wetterexperten einen Wahrheitsgehalt von immerhin 80 Prozent.

Unterliegen auch die Aktienkurse saisonalen Schwankungen? Lassen sich anhand immer wiederkehrender Muster gute Ein- oder Ausstiegszeitpunkte festmachen? Allem Anschein nach: Ja! "Sell in May and go away, but remember to come back in September" ist jedenfalls eine der bekanntesten und ältesten Börsenweisheiten. Schon 1935 beschäftigte sich ein Artikel in der "Financial Times" mit dem Phänomen schwächerer Notierungen im Sommer und anziehender Kurse im Winter.

"Sell in May" fordert Investoren auf, sich im Wonnemonat von den Märkten zurückzuziehen und Kursschwächen im Herbst für erste Engagements zu nutzen. Dass die Anlagestrategie langfristig erfolgreich ist, zeigt sich am Dow Jones. Der US-Leitindex erzielte seit Aufstellung im Jahr 1896 in den kälteren Monaten durchschnittlich 5,2 Prozent, in den wärmeren Monaten jedoch lediglich 1,7 Prozent an Wertzuwachs.

Nicht nur an der Wall Street funktioniert die Strategie, behauptet Ben Jacobson. Der Professor für Finanzwissenschaft an der Massey Universität in Neuseeland hat 108 Aktienmärkte im Zeitraum 1962 bis 2012 auf diese Börsenregel hin untersucht - und tatsächlich schnitten 81 Finanzplätze zwischen November und April überwiegend besser ab als in der Periode Mai bis Ende Oktober.

Speziell in Großbritannien, aber auch in anderen westeuropäischen Ländern sei der Unterschied feststellbar, während Indiens Börse und einige Märkte in Südamerika dagegen keine signifikanten saisonalen Schwankungen aufwiesen. Jacobson wendet die "Sell in May"-Strategie selbst an. Eigenen Angaben zufolge übertrumpft er auf diese Weise den Markt um mehrere Prozentpunkte pro Jahr.

Erklärt wird die Sommerflaute unter anderem mit der während der Feriensaison abnehmenden Zahl an Marktteilnehmern. Zudem machen einige Anleger Kasse, um den Urlaub zu finanzieren. Andere liquidieren ihr Depot, um sich auf Reisen vor überraschenden und unliebsamen Kursentwicklungen zu schützen. Nicht zuletzt hat die Börsenregel mittlerweile auch eine gewisse Eigendynamik entwickelt. Je mehr Anleger sie beherzigen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich tatsächlich erfüllt.

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Schwache Sommermonate

Auch der deutsche Leitindex DAX neigt zur Sommerschwäche. Allerdings sollten Anleger nun nicht immer gleich zum 1. Mai ihr Depot räumen. Seit 1988 stieg der DAX im Schnitt im Mai immerhin noch um 0,03 Prozent, im Juni um 0,20 und im Juli um 1,31 Prozent (siehe Grafik).

Nur für die Monate August und September weist der DAX im Schnitt statistisch stets ein klares Minus auf. Den höchsten Ertrag hingegen erzielte das Börsenbarometer mit im Schnitt 2,7 Prozent im Dezember.

Allerdings: "Nicht in jeder Jahreszeit und nicht in jedem Monat laufen die deutschen Standardwerte in die Richtung, die die Statistik eigentlich vorgibt", warnt Jessica Schwarzer. Die Finanzmarktexpertin und Autorin hat in ihrem Buch "Sell in May and go away?" eine ganze Reihe von Börsenweisheiten auf ihre Tragfähigkeit untersucht. "Im vergangenen Jahr haben ,Sell in May‘-Investoren Renditechancen klar verpasst", sagt Schwarzer.

Tatsächlich schaffte der DAX zwischen Mai und Oktober 2013 ein Plus von über zwölf Prozent. Zwischen November 2013 und Ende April 2014 legte der DAX dagegen nur um vier Prozent zu. Auch im Herbst und Winter 2007 fiel der eigentlich zu erwartende Kursaufschwung angesichts der sich abzeichnenden Finanzkrise aus. Hohe Verluste mussten Anleger zudem zwischen November 2000 und April 2001 hinnehmen, als die Internetblase platzte.

Andererseits kann es im Mai tatsächlich stark nach unten gehen, so geschehen im Jahr 2012. Seinerzeit gab der DAX sechs Prozent ab - unter anderem hatte das Ergebnis der vorgezogenen Parlamentswahl in Griechenland und die damit verbundene Sorge um eine Eskalation der Eurokrise auf die Stimmung der Anleger gedrückt. Erst die Ankündigung von EZB-Chef Mario Draghi im Juli 2012, der Euro werde unter allen Umständen gerettet, beendete die Talfahrt und hievte die Aktienkurse wieder nach oben.

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Unsicheres Umfeld

Saisonalität ist also ein wichtiges, aber beileibe nicht das einzige kursbeeinflussende Element. Bestimmte Ereignisse können jahreszeitliche Trends verstärken, jedoch auch umkehren. "In die Prognose sollten daher die jeweiligen Bewertungen, das Zinsniveau, aber auch mögliche geopolitische Entwicklungen mit einfließen", empfiehlt Schwarz.

An zur Vorsicht mahnenden Indikatoren herrscht derzeit kein Mangel. Der marktbreite US-Index S & P 500 legte in den vergangenen fünf Jahren um rund 120 Prozent zu. Das für den US-Index berechnete Shiller-Kurs-Gewinn-Verhältnis - es setzt den Kurs in Beziehung zu den mittleren inflationsbereinigten Indexgewinnen der vorangegangenen zehn Jahre - weist mit aktuell 25 ein Niveau auf, dass zuvor 2000 und 2007 erreicht wurde. In den darauffolgenden Jahren ging es mit den Kursen klar nach unten.

Die Furcht der Anleger vor einem größeren Rücksetzer des US-Gesamtmarkts im Sommer, der aller Voraussicht nach auch die übrigen Börsen negativ beeinflussen würde, speist sich auch aus den jüngsten Korrekturen etwa im Biotechsektor. Zudem droht die Erholung des US-Häusermarkts, von dem die Konsumfreude der US-Bürger, aber auch die Mobilität der Arbeitskräfte in den USA maßgeblich abhängen, an Dynamik zu verlieren. Im März sanken die Verkäufe bereits genutzter Immobilien gegenüber dem Vorjahresmonat um 7,5 Prozent. Ursache sind wieder anziehende Hypothekenzinsen.

Ein weiteres statistisch gut belegtes Phänomen macht Investoren zusätzlich nervös: Die USA befinden sich aktuell in der Mitte ihrer Legislaturperiode. "In der Vergangenheit waren dies überwiegend schwächere Börsenphasen, da die Regierungen im Vergleich zu heißen Wahlkampfzeiten eine weniger aktive Konjunkturpolitik betrieben", erläutert Ralf Müller-Rehbehn, Aktienexperte bei der Vermögensverwaltung AMF Capital.

Als möglichen Auslöser für eine Talfahrt sieht Müller-Rehbehn aber vor allem geopolitische Risiken: "Neben den Spannungen zwischen den westlichen Industriestaaten und Russland traten die Entwicklungen in Syrien und Ägypten in den Hintergrund der öffentlichen Aufmerksamkeit. Sie haben das Potenzial, die Kaufbereitschaft der Anleger in den kommenden Monaten zu dämpfen."

Bei allen Gefahrenherden gibt es allerdings auch eine Reihe Faktoren, die zu positiven Überraschungen führen könnten. Nicht auszuschließen ist zum Beispiel, dass die EZB für einen kurstreibenden Paukenschlag sorgt. Die niedrige Inflationsrate macht den Währungshütern ebenso zu schaffen wie die anhaltende Kreditklemme. Noch mehr Liquidität der Notenbanker, um diesen Problemen entgegenzuwirken, würde für neuen Schwung an den Aktienmärkten sorgen.

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Herbstliche Zuversicht

Bis zum vierten Quartal könnten sich auch die aktuellen politischen Spannungen wieder etwas beruhigt haben, meint Müller-Rehbehn. Positive Gewinnaussichten der Unternehmen stünden dann wieder im Fokus und sollten die Anleger zum Kauf motivieren.

Im Sommer lieber etwas vorsichtiger agieren, im Herbst wieder mehr wagen - das könnte sich auch dieses Jahr also durchaus als richtige Investmentstrategie für Anleger erweisen. Eine Garantie dafür gibt es natürlich nicht. Und 2015 müssen die aktuellen Einflussfaktoren sowieso wieder neu bewertet werden - um zu sehen, ob das Umfeld dann für oder gegen die Regel spricht.

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