Einst war Joe Kaeser Finanzvorstand von Siemens. Der Niederbayer betreute viele Jahre die Kommunikation mit den Finanzmärkten, auch als Vorstandschef tat er das anfangs noch. Was Investoren so denken und wollen, weiß der 61-Jährige nur allzu gut. Jetzt setzt Kaeser ziemlich exakt das um, was der Kapitalmarkt will: Aus dem industriell geprägten Mischkonzern wird laut der Details von Kaesers Umbauprogramm "Vision 2020+" ein kleineres, schlankeres Unternehmen, das sich auf die Industriedigitalisierung und intelligente Gebäude- und Netztechnik fokussiert.
Zerschlagung nennen es Kritiker. Abspaltung oder Spin-off lautet der Fachbegriff für das, was sich die Führungsspitze um Kaeser und Finanzchef Ralf Thomas ausgedacht hat: Der Konzern entlässt sein größtes Geschäft mit Kraftwerken und Energienetzen in die Selbstständigkeit. Der langjährige Kern von Siemens soll danach, gestärkt durch den 59-prozentigen Anteil des Mutterkonzerns an der Windkrafttochter Siemens Gamesa, an die Börse gebracht werden. "Das ist eine Transformation unserer DNA. Es war nicht leicht, das zu tun", sagt Kaeser, Siemensianer seit 39 Jahren.
Es ist eine Zeitenwende im Traditionskonzern: Ein neuer Riese der Energietechnik wird aus Siemens gleichermaßen herausgeschnitten - "carved out". Diese NewCo, so der Arbeitstitel des Projekts, das aus der jetzigen Sparte Gas and Power hervorgehen soll, wird rund 30 Milliarden Euro Umsatz auf die Waage bringen und weit über 80.000 Mitarbeiter beschäftigen. Über die Marktkapitalisierung lässt sich lediglich spekulieren. Potenziell aber ist es ein DAX-Kandidat, zumal Siemens die Mehrheit daran abgeben (und zugleich mindestens eine Sperrminorität halten) will.
Börsengang in Frankfurt
Der Börsengang erfolgt aus rechtlichen Gründen zwingend in Deutschland. Wo der Sitz liegen soll, ist noch offen. Derzeit wird das Energiegeschäft vom texanischen Houston aus geführt. "Wir müssen auch das politische Umfeld bewerten, wer unterstützt uns hier am besten", sagt Kaeser, der sich noch nicht auf einen Sitz festlegen will.
Die Voraussetzungen für den Start der Firma, die Finanzchef Thomas mit ausreichend Finanzpower ausstatten will, sind nicht schlecht. Der lange Zeit kriselnde Kraftwerksbereich verzeichnet nach der Restrukturierung deutliche Gewinnzuwächse, im jüngsten Quartal waren es 38 Prozent Plus auf 156 Millionen Euro. Die Verbesserung stammt vor allem aus dem Servicegeschäft. Die Wartung von Gasturbinen und Kraftwerken ist lukrativ, das Neugeschäft steht aber weiter unter Preisdruck und bleibt defizitär.
Auch deshalb wird es in den kommenden Monaten eine große Herausforderung für Kaesers Team, NewCo vernünftig zu verkaufen - damit Investoren nach Zuteilung die Papiere nicht gleich in Massen aus den Depots werfen. "Mit dem konventionellen Kraftwerksgeschäft, der Netzübertragungstechnik sowie den Windkraftanlagen ist es das einzige Unternehmen im Sektor, das so komplett aufgestellt ist", wirbt Kaeser jetzt schon fleißig.
NewCo soll weiter von der erfahrenen Spartenchefin Lisa Davis geführt werden. Finanzchef wird Ex-Osram-Manager Klaus Patzak, der den Spin-off der ehemaligen Lichttechniktochter von Siemens begleitete. Läuft alles nach Plan, werden Siemens-Aktionäre bis September 2020 womöglich eine ähnliche Anzahl Aktien des Energietechnikers im Depot wiederfinden - falls Kaeser nicht doch noch einen Fusionspartner für NewCo findet, diese Option hält er sich offen. Über einen Merger mit Japans Mitsubishi Hitachi wird weiter spekuliert.
Nach jetzigem Plan erhalten Siemens-Aktionäre die Papiere, wie bei Spin-offs üblich, quasi kostenlos. Gewöhnlich ist das kein schlechtes Geschäft für Anteilseigner. Es fällt indes auf, dass Siemens an einem Spin-off nicht die Mehrheit halten, sprich die Firma aus der Bilanz dekonsolidieren will.
"Es ist ein kapitalintensives Geschäft mit hohem Risiko und vergleichsweise geringer Rendite. Das ist auch der Grund, weshalb der Bereich im konzerninternen Wettbewerb um Ressourcen sich oft hinten anstellen muss", sagt Kaeser. Daher erscheint es logisch, dass es keinen klassischen IPO wie etwa bei Healthineers im März 2018 gibt. Die Energietechnik lässt sich am Kapitalmarkt schwerer verkaufen als die zukunftsweisende Medizintechniktochter. Klar ist auch, dass in der Energietechnik weiter restrukturiert wird. Rund 6.000 Jobs wurden bereits gestrichen, weitere dürften bis Herbst 2020 folgen.
Auf Seite 2: Siemens schrumpft
Siemens schrumpft
Diese Strategie bedeutet für Siemens den Abschied vom bislang umsatzstärksten Bereich. Der Konzern wird von rund 90 auf 50 bis 60 Milliarden Euro geschrumpft. Und: War die alte DNA des DAX-Unternehmens die Elektrifizierung, auf die Kaeser beim Amtsantritt im August 2013 noch stark fokussierte, so wird rund zwei Jahre vor seinem voraussichtlichen Abschied die Digitalisierung zum neuen Siemens-Genom.
Die gemäß neuer Definition künftigen Kerngeschäfte Digital Industries (DI) und Smart Infrastructure (SI) - siehe oben - sollen Motor des künftigen Konzernwachstums werden. "Bei der Verbindung der realen mit der digitalen Welt sind wir die klare Nummer 1. Aber wir dürfen uns darauf nicht ausruhen", sagte Kaeser vor einigen Monaten im Interview mit €uro am Sonntag. Jetzt macht er Nägel mit Köpfen.
DI, ein stark softwaregetriebenes Geschäft, soll künftig um 25 Prozent stärker wachsen als der Markt, der Abstand zur Konkurrenz zunehmen, so das erklärte Ziel. Besonders die Softwareplattform Mindsphere, die Industriekunden vom digitalen Produktdesign bis zur Produktionsplanung oder -steuerung eine breite Palette an Diensten bietet, kommt im Wettbewerb gut an. Diese Spitzenstellung in der lukrativen Industriedigitalisierung, die Margen von gut 20 Prozent abwirft und damit deutlich lukrativer ist als etwa das Energiegeschäft, will Kaeser Siemens unbedingt sichern.
Dafür soll den Plänen zufolge kräftig investiert werden. Bis 2023 will Siemens bei DI netto 7.000, bei SI rund 3.000 Jobs schaffen. Dennoch wackeln auch hier die Jobs Tausender Mitarbeiter. Der Trend ist recht klar: Software-Entwickler werden gesucht, schon jetzt sind es rund 30.000 im Unternehmen.
Siemens wandelt sich damit zum IT-Konzern, dem zweiten neben SAP im DAX - das wird Kaesers Vermächtnis. Der kapitalmarktaffine Chef geht indes weiter: Quer durch alle Abteilungen wird weiter gespart, insgesamt sollen die Kosten binnen vier Jahren um 2,2 Milliarden Euro sinken. Die Zentrale verliert bis 2023 etwa 2.500 der 12.500 Stellen, Funktionen wandern in die operativen Bereiche ab. Die Marge des Kerngeschäfts soll mittelfristig von elf bis zwölf auf 14 bis 15 Prozent, langfristig auf 14 bis 18 Prozent steigen.
Mancher kritische Beobachter moniert, Kaeser zerlege Siemens wie eine Heuschrecke. Doch dass Finanzinvestoren den Mischkonzern, so wie etwa Thyssenkrupp, unter Druck setzen und dem Management ihren Willen aufzwingen, das will Kaeser mit dem radikalen Umbau unbedingt verhindern.
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Kleiner und feiner
Die Umbaupläne machen aus Siemens ein kleineres und fokussierteres Unternehmen, das auf den wachstumsträchtigen und margenstarken Digitalbereich ausgerichtet ist. Die Voraussetzungen für die Transformation sind gut, denn das operative Geschäft läuft. Im jüngsten Quartal schafften sechs der acht Sparten ihre Zielvorgaben für die Gewinnmarge. Die operativen Ergebnisse der Problemfälle Kraftwerks- und Prozesstechnik erholen sich. Die Konzernprognose für das Gesamtjahr wurde bestätigt. Langfristig soll die operative Marge deutlich steigen. Attraktiv.
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