Siemens-Aktie vor der HV: Was Anleger tun sollten
· Börse Online RedaktionJoe Kaeser ist ein erfahrener Redner. Wenn der Vorstandschef von Siemens am kommenden Dienstag vor die versammelten Aktionäre in der Münchner Olympiahalle tritt, wird seine Stimme geschmeidig, sein Tonfall selbstbewusst und sein Auftreten souverän sein. "Siemens steht bei Siemens wieder über allem", ist so ein Satz, den Kaeser gern benutzt, wenn er mit Pathos die bessere Firmenkultur unter seiner Ägide beschwört.
Höflichen Applaus dürften die rund 8000 Aktionäre und Mitarbeiter dem ranghöchsten Manager wohl spenden - schließlich hat der Niederbayer mit 35 Jahren Konzernzugehörigkeit einen großen Bonus bei Siemensianern. Doch die Kritik dürfte lauter werden als auf seiner ersten Hauptversammlung vor einem Jahr. Viel lauter.
Die neue Konzernstrategie namens "Vision 2020" liegt nun seit neun Monaten vor. Kaeser verlangt demnach von Mitarbeitern mehr unternehmerisches Denken, eine andere Firmenkultur. Und Siemens wird wieder umgebaut: Aus vier Sektoren macht der Chef zehn Divisionen (siehe Tabelle) - kein Stein bleibt auf dem anderen.
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Wachstum erst 2016
Dafür gibt es viel Lob. Doch zugleich ist der größte deutsche Industriekonzern erneut mit sich selbst beschäftigt und das Geschäft im Leerlauf. Der Umsatz stagnierte schon im abgelaufenen Geschäftsjahr. Für die laufende Periode schließt das Management Nullwachstum erneut nicht aus. Erst 2016 werde der Umsatz von Siemens wachsen, sagt der Chef. Gewinnzuwächse gibt es vorerst nur, weil Kaeser ein Geschäft nach dem anderen verkauft - wie die lukrative Hörgerätesparte.
Noch so ein Übergangsjahr - die Fragen der Anteilseigner werden drängender: Wann und wie will Siemens endlich zu den Wettbewerbern aufholen? Was wäre die passende Antwort auf den Coup des Erzrivalen General Electric (GE), der Siemens im Poker um die Energiesparte von Alstom ausstach und dem Konzern so in Europa auf die Pelle rückte?
Und dann ist da noch die Sache mit den Ausrüstungen für die Öl- und Gasindustrie. Im Frühjahr 2014 übernahm Siemens das Turbinengeschäft der britischen Rolls- Royce, im Herbst den US-Kompressorenhersteller Dresser-Rand. Der Sprung ins Fracking-Geschäft kostete etwa sieben Milliarden Euro. Das Timing hätte kaum schlechter sein können. Seither ist der Ölpreis um gut die Hälfte abgestürzt. Viele Energiekonzerne stellen ihre Investitionen auf den Prüfstand, kürzen Budgets - es droht der Blackout bei den Orders.
Auf Seite 3: Was der Rückgang der Ölinvestitionen bewirken kann
Es wird spannend, was Kaeser seinen Anteilseignern auf Fragen wie diese antwortet: Wann und wie stark wird die Öl- und Gasindustrie ihre Investitionen zurückfahren - und welche Folgen hat das für den Auftragseingang von Siemens?
In welche Richtung die Verteidigung des gewieften Taktikers geht, wurde auf einer Präsentation vor Analysten jüngst in New York deutlich. Öl mache nur zwei Drittel des Geschäfts von Dresser-Rand aus, der Rest entfalle auf Gas. Zudem stamme die Hälfte des Geschäfts aus dem Servicebereich, referierte Kaeser routiniert - und verwies auf die belebenden Effekte des Ölpreisabsturzes auf die Weltkonjunktur und andere Siemens-Bereiche.
Doch die Gaspreise sinken ebenfalls. Andere Öl- und Gasausrüster wie die weltweite Nummer 1 Schlumberger melden drastische Gewinneinbrüche. "Mittelfristig könnte sich das klar negativ in den Auftragsbüchern von Siemens niederschlagen", warnt Ingo Speich, Fondsmanager bei Union Investment.
Dresser-Rand wurde für Siemens auch deshalb zur teuersten Übernahme aller Zeiten, weil ausgerechnet Kaesers Vorgänger Peter Löscher, Vorstand des Schweizer Konkurrenten Sulzer, die Münchner in einen Bieterwettbewerb trieb. Manchen Investor plagt jetzt die Sorge, der noch nicht abgeschlossene Kauf könnte wegen des stärkeren Dollar gar noch teurer werden.
Auf Seite 4: Lisa macht das Licht aus
Lisa macht das Licht aus
Fondsmanager Speich, der umfangreiche Aktienpakete vertritt, wertet den Deal prinzipiell als strategisch sinnvoll. Doch wann sich die Investitionen angesichts der Turbulenzen auf den Rohstoffmärkten rechnen, darauf dürfte der Siemens-Chef am Dienstag schwer eine Antwort finden.
Gut möglich, dass Kaeser dann auf Vorstandskollegin Lisa Davis verweist. Kaeser holte die Ex-Managerin von Shell, die zuvor jahrelang in der US-Energiebranche gearbeitet hat, im April zu Siemens, um endlich im Fracking-Geschäft zu punkten. Schließlich explorierte vor allem Rivale GE bis dahin unbehelligt das Wachstumsfeld.
Davis dürfte inzwischen grübeln, ob ihre Karriereentscheidung die allerglücklichste war. Denn ihr Beritt, der Energiebereich, einst Siemens’ Hauptgewinnbringer, verliert zusehends an Spannung. Der Ordereingang bei Gasturbinen sinkt, Analysten warnen, dass im Neugeschäft bald nichts mehr verdient werden könnte.
Ungünstig für den gesamten Vorstand, dass die Medizintechnik, noch ein starkes Standbein, bei Umsatz und Ergebnis eher geradeaus läuft. Auch von Sparten wie der Verkehrstechnik, der zuletzt ein Sparprogramm neuen Schwung verlieh, erwarten Analysten eher gemütliches Dahingleiten.
Auf Seite 5: Wie die Jahresprognose einzuschätzen ist
Keine Frage, Kaeser ackert, will die 18 Prozent am Konzernumsatz, die keinen Gewinn oder gar Verluste abliefern, endlich profitabel machen - und hat Trümpfe in der Hinterhand: Bei der Windenergie etwa, die zuletzt operativ an der Nulllinie drehte, sollte die Gewinnwende klappen. Auch die durch milliardenschwere Abschreibungen gebremste Energieübertragung dürfte sich von den Projektpleiten bei Umspannplattformen in der Nordsee erholen.
Zur entscheidenden Variablen für den operativen Erfolg des Konzerns im laufenden Jahr wird wohl das Industriegeschäft. Hier sind die Bayern exzellent aufgestellt und würden von einem weltweiten Konjunkturaufschwung profitieren. Siemens ist in der digitalen Automatisierungstechnik spitze, liefert modernste Anlagen etwa an die Autoindustrie in China. Hier erzielten die Münchner zuletzt große Teile des Spartenumsatzes. Wegen des Booms sehen Beobachter indes ein Problem. "Der Höhepunkt dürfte überschritten sein", sagt Andreas Willi von J P Morgan, ein renommierter Industrieanalyst.
Kennern gilt Kaesers Jahresprognose - mindestens Nullwachstum, Gewinnplus 15 Prozent durch Verkäufe - als erzkonservativ. "Wenn Kaeser nicht mehr liefert, wäre ich schon enttäuscht", sagt ein Investor vertraulich. Kaesers Karriere würde dies kaum knicken. Müsste Siemens nach der viel zu teuren Übernahme des Diagnostikgeschäfts 2007 und dem desaströsen Ausflug in die Solartechnik einen weiteren Megaflop bei Zukäufen verbuchen, dann läge der Fall wohl anders.
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