Es ist gerade ziemlich was los in der Siemens-Zentrale. Jüngst traf sich Vorstandschef Roland Busch mit Jensen Huang, Chef des US-Halbleiterherstellers Nvidia. Die Manager trommelten für eine neue Softwareplattform für Industriesoftware, Huang war dafür extra nach München gejettet. Mit "Xcelerator" wollen die Techkonzerne, so der Marketingslogan, ein "industrielles Metaversum" schaffen. Industriekunden sollen dank rechenstarker Chips und KI-Software ihre Produktionsprozesse effektiv und wirklichkeitsgetreu simulieren und optimieren können. "Wir helfen Unternehmen, ihre Innovationen an die Geschwindigkeit anzupassen, mit der die Softwareentwicklung voranschreitet", warb Busch. Und Huang, Boss des technisch brillanten Grafikchip-Spezialisten, gestand den Münchnern zu, eines der größten Technologieunternehmen der Welt zu werden.
Tags darauf holte die Vergangenheit die Bayern aus Zukunft und Metaversum zurück auf den Boden der Tatsachen. Die Tochter Siemens Energy (SE), vom Konzern im Herbst 2020 als Spin-off an die Börse geführt, nachdem das einstige Energietechnikgeschäft dort eingebracht worden war, sorgt für eine milliardenschwere Belastung. Eine Abschreibung in Höhe von 2,8 Milliarden Euro ist bei der 35-prozentigen Beteiligung im soeben abgelaufenen dritten Geschäftsquartal fällig. Der Grund: Der Aktienkurs von SE, Ende Juni bei nur 13,99 Euro, notiere "erheblich unter Buchwert", so Siemens. Das liegt wiederum daran, dass das Windkraftgeschäft der zugehörigen Siemens Gamesa zuletzt mehrere Gewinnwarnungen abgab und kräftig Minus macht.
Experten erwarten Gewinn
Analysten waren bis vor Kurzem bei Siemens für das dritte Quartal zum Ende Juni von einem Nettogewinn in Höhe von rund 1,5 Milliarden Euro ausgegangen. Jetzt droht statt eines ordentlichen Plus sogar ein Minus. Zugleich steht die Jahresprognose auf der Kippe. Mit der Abschreibung auf SE allein liegt der Nettogewinn pro Aktie deutlich unter den prognostizierten 8,70 bis 9,10 Euro pro Aktie. Die Hiobsbotschaft drückte die Siemens-Aktie zeitweise erheblich unter die Marke von 100 Euro.
Es wäre die erste Gewinnwarnung in der noch jungen Ära unter Chef Busch. Retten könnte die Prognose die gerade laufende Verkaufswelle bei den Münchnern, die ihre Randgeschäfte Zug um Zug veräußern. Soeben wurden etwa das Brief- und Paketlogistik-Geschäft und die Straßenverkehrstechnik-Sparte Yunex Traffic verkauft, auch ein Anteil am Elektroauto-Joint-Venture Valeo wechselte den Besitzer. Die gesamten Erlöse durch Desinvestitionen liegen im laufenden Geschäftsjahr wohl deutlich über zwei Milliarden Euro.
Operative Baustelle
Die strukturellen Probleme bei SE aber sind nicht gelöst. Eigentlich wollte Siemens seine SE-Anteile reduzieren, doch dann belasteten die Gewinnwarnungen der Energietochter den Kurs. Man werde "abhängig vom Marktumfeld umsichtig entscheiden", hieß es zuletzt. Der Druck auf SE-Chef Christian Bruch steigt unterdessen. Der schickte mit Christian Eickholdt Anfang März einen ausgewiesenen Sanierer an die Spitze der maroden Windkraftsparte. Noch hält SE nur zwei Drittel der Anteile an Gamesa. Seit Ende Mai hat Bruch grünes Licht für eine Komplettübernahme, um auf der spanischen Dauerbaustelle durchzugreifen. Rund vier Milliarden Euro könnte das kosten.
Gespannt sind Investoren nun, wie es bei Digital Industries (DI), dem Hauptgewinnbringer von Siemens, läuft. Im ersten Geschäftshalbjahr hatte die Sparte, in der Automatisierungstechnik sowie Industriesoftware angesiedelt sind, den Gewinn um sieben Prozent auf 1,8 Milliarden Euro gesteigert. Die Marge sank deutlich auf knapp 20 Prozent, weil der Softwarevertrieb auf ein Abomodell umgestellt wird. Die Kernfrage lautet, ob das Automatisierungsgeschäft angesichts klemmender Lieferketten und der Nöte vieler Firmenkunden weiterhin deutlich wächst. Beim Quartalstermin am 11. August wird dies im Fokus stehen. Das industrielle Metaversum hat indes auf die Jahresprogno- se nicht den geringsten Einfluss.
INVESTOR-INFO
Siemens
Gesunder Kern
Die Energietechnik belastet derzeit neben Rezessionsbefürchtungen den Kurs der DAX-Aktie. Im alten Kerngeschäft sind es aber nicht mehr die Gasturbinen, sondern die Windkraftanlagen, die Probleme machen. Die Reparatur wird sich hinziehen. Das neue Kerngeschäft, hier vor allem die Digitale Industrie, läuft hingegen gut und bringt satte Margen. Auch die Medizintechniktochter Healthineers, an der Siemens noch 75 Prozent hält, ist ein nachhaltiger Gewinnlieferant. Kaufgelegenheit.