Es ist nur ein Detail, aber eines, das allerhand aussagt: "Todo pasa" steht auf dem klobigen Goldring, den Julio Grondona am Finger trägt. Grondona, 82 Jahre alt, ist seit 35 Jahren Präsident des argentinischen Fußballverbands AFA. Die Ägide des einstigen Eisenwarenhändlers begann 1979 unter den ebenso mörderischen wie räuberischen Militärs, sie umfasste den Verkauf der Fußball- Fernsehrechte zunächst ans Pay-TV und dann an die Regierung, das Ausufern der Gewalt in den Stadien mit vielen Toten, die Aufspaltung der Hin- und Rückrunden in zwei separate Meisterschaften, dubiose Deals mit Freundschaftsspielen der Nationalmannschaft, wundersame Schiedsrichtersprüche, Morddrohungen, Auslandskonten und den Aufstieg Grondonas zum FIFA-Finanzdirektor und so zur rechten Hand des skandalumwölkten Weltfußballbosses Sepp Blatter. In Argentinien nennen sie den Mann mit der sparsamen Mimik und der leisen Falsettstimme schlicht "Don Julio". Oder "El Padrino", der Pate. Die Worte auf Grondonas Ring haben im Deutschen zwei mögliche Übersetzungen: "Alles geschieht" oder "Alles geht vorbei". Beide treffen zu.
Jedes vierte Jahr wählen die 46 Mitglieder des AFA-Exekutivkomitees den Verbandspräsidenten. Neunmal hintereinander wurde Grondona gewählt. In all den Jahren gab es nur eine einzige Gegenstimme. "Grondona ist der Besitzer des Fußballs in diesem Land", sagt Andrés Ducatenzeiler, der einzige hohe Fußballfunktionär, der Grondona jemals vor Gericht brachte.
Ducatenzeiler war zwischen 2002 und 2004 der Präsident des Klub Atlético Independiente de Avellandeda, der zu den fünf großen Teams in Argentinien zählt. Der Verein aus dem Industriegürtel südlich der Hauptstadt Buenos Aires hat in seiner Titelsammlung sieben Copa Libertadores, das Latino-Pendant zur Champions League, außerdem gewann "el Rojo" 1984 den Weltpokal gegen Liverpool. Der Klub brachte in den 70ern den großartigen Ricardo Bochini hervor, den viele, auch Diego Maradona, als besten argentinischen Spieler aller Zeiten bezeichnen. Doch diese Glorie ist nur noch Geschichte.
Vorige Woche schaffte der Traditionsverein auf den letzten Drücker den Wiederaufstieg in die Primera División. Doch damit ist er nicht gerettet. Denn die Bilanz ist noch röter als die Klubtrikots. 450 Millionen Pesos betrugen Ende 2013 die Verbindlichkeiten, umgerechnet 40 Millionen Euro. Damit hat Independiente die höchsten Schulden des argentinischen Fußballs, dessen Vereine Ende des Vorjahres insgesamt 220 Millionen Euro Schulden anhäuften.
An zweiter Stelle der Pleitekandidaten folgt schon der Großklub River Plate aus dem edlen Norden der Hauptstadt, der mit knapp 35 Millionen Euro in der Kreide steht. Der Verein, dessen edler Name durch den Abstieg 2011 ziemliche Beulen abbekam, ist vor drei Wochen wieder Meister geworden. Doch die neue Klubführung wird die meisten Leistungsträger verkaufen müssen, um den Spielbetrieb überhaupt weiterführen zu können. Den vormaligen Präsidenten Daniel Passarella, einst Kapitän der Weltmeistermannschaft 1978, hat die neue Präsidentschaft wegen Betrugs verklagt, Ähnliches passierte Passarellas Vorgänger. Verurteilungen von raffgierigen Bossen sind jedoch die Ausnahme.
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Geld auf private Konten
Mit dubiosen Geschäftspraktiken am Río de la Plata konnte sich 2006 auch der FC Bayern vertraut machen. Die Münchner hatten ein Auge auf Sergio "Kun" Agüero geworfen, das bislang letzte wirkliche Juwel des Club Independiente. Der fast fertige Deal platzte, weil der damalige Klubchef einen Teil der 20-Millionen- Euro-Ablöse auf sein Privatkonto überwiesen haben wollte. Schließlich wurde der junge "Kun" an Atlético Madrid verkauft. Wo die 28 Millionen Euro Ablöse geblieben sind, ist bis heute ein Rätsel.
Ein Grund für den Ruin der Vereine grölt bei jedem Heimspiel von den Tribünen. "Barras bravas", zu deutsch "wilde Ränge", heißen die Hooligans in der Pampa-Version. Diese haben es - im Gegensatz zu den europäischen Ultras - geschafft, in die Vereine einzudringen und diese auszubluten. Diese Fans verlangen und bekommen freien Eintritt bei Heimspielen, sie kassieren auf den Parkplätzen, bei den Trikotverkäufen, beim Weiterverkauf ihrer vom Klub überlassenen Eintrittskarten und dem Handel mit Drogen in und um die Stadien. In manchen Vereinen verdienen Barras-Bosse sogar an den Transfereinnahmen mit. Außerdem halten sie direkt bei Spielern und Trainern die Hände auf.
Der Spuk wird allein deshalb nicht bekämpft, weil diese Gruppen ihre Überzeugungskraft auch offiziellen Dienstherren zur Verfügung stellen. So besetzten die Barras bravas des Vorstadtklubs Nueva Chicago 2007 das nationale Statistikamt INDEC. Im Auftrag des damaligen Staatssekretärs für den Binnenhandel brachten sie mit der Überzeugungskraft ihrer Baseballschläger die Beamten zur Korrektur aller wichtigen Kernziffern: Inflation, Wachstum, Armut. Dank dieser neuen Spezialkräfte - 200 bekamen eine feste Anstellung im Statistikamt - lag die offiziell verkündete Inflationsrate plötzlich bei zehn Prozent, während unabhängige Institute 25 Prozent und mehr ermittelten.
Trotz all dieser Skandale überraschte vor zwei Jahren ausgerechnet die Präsidentin mit einer Hymne auf diese Horden: "In Wirklichkeit empfinde ich großen Respekt für diese Leute", sprach Cristina Kirchner via TV zu ihrem Volk. "Denn was bedeutet eine solche Passion, eine solche Leidenschaft für einen Klub? Das Leben!" Den Hinterbliebenen der Fußballopfer mögen diese Worte wie blanker Zynismus entgegengeschlagen haben. Seitdem Kirchners Ehemann Néstor 2003 die Amtsgeschäfte übernahm, starben 71 Menschen an den Umtrieben in und um die Klubs. Seit 1930 wurden 286 Fußballtote gezählt.
Die Situation ist bizarr: Weil weder Vereine noch Verband die Gewalt in den Stadien eindämmen konnten, dürfen seit Mitte 2013 keine Gästefans mehr in die Stadien. Die Ausfälle bei den Ticketverkäufen gleicht der Steuerzahler aus - und das ist wohl die größte Perversion: Jeden Tag bekommen die Klubs, trotz korrupter Präsidenten, geldgieriger Barras bravas und zerbröselnder Infrastruktur eine halbe Million Euro aus dem Staatshaushalt. Denn seit 2009 hält der Staat die TV-Rechte an allen Erst- und einigen Zweitligaspielen. Verbandsboss Grondona ließ sich seinerzeit von der Regierung überzeugen, jene Pay-TV-Firma auszubooten, der er die Rechte in einem wenig transparenten Deal für viele Jahre verschachert hatte.
Damals entstand jenes Projekt, das die Regierung als "Rückgabe des Fußballs an das Volk" verkaufte: "Fußball für alle" nennt sich das Programm, das alle Spiele live und in voller Länge überträgt. "Liga und Lügen" heißt der Zyklus bei Spöttern. Denn sämtliche Werbepausen werden von ebenso staatlich finanzierten Spots gefüllt, die die Leistungen der Regierung heroisieren.
"Fútbol para todos" hat in den ersten vier Monaten dieses Jahres 62 Millionen Euro verschlungen, knapp die Hälfte der im Haushaltsentwurf vorgesehenen 127 Millionen. Der Betrag ist das Fünffache dessen, was die Regierung jährlich zur Bekämpfung des Drogenhandels ausgibt. Und Präsidentin Kirchner wird noch mehr Steuermillionen nachschießen müssen, damit Argentiniens Fußball weitervegetieren kann. Kommendes Jahr ist Wahljahr, zudem wird die erste Liga auf 30 Teams ausgeweitet. Das ist der jüngste Einfall von Don Julio.
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Schwarze Konten in der Schweiz
Apropos Grondona : Im November 2011 fanden sich durch Zufall zwölf Schweizer Konten, zu denen Personen aus dem engen Umkreis des Verbandsbosses Zugang hatten - sein Chauffeur, seine zwei Kinder, seine Frau. Es ging um knapp 73 Millionen Dollar. Die Ermittlungen der Schweizer Behörden blieben stecken, weil Argentiniens Außenministerium die Dokumente nicht überstellte. Und auch in Argentinien erlahmte die Wissbegierde der Ermittler. "In meinen 35 Amtsjahren bekam ich schon mehr Klagen an den Hals als Al Capone", sagte Don Julio. "Und niemals wurde ich verurteilt."
Trotz aller Skandale sind die Argentinier unheilbar verrückt nach Fußball. Vor allem in der Hauptstadt, in deren 14 Millionen Menschen erfassendem Einzugsbereich 14 der 20 Erstligisten daheim sind, steigen ständig pikante Derbys - allen voran "el Superclásico": Boca Juniors versus River Plate.
Am Sonntag hat die Nationalmannschaft gegen Bosnien ihr erstes Gruppenspiel absolviert - und das in Gesellschaft Tausender Landsleute, die trotz Inflation und Devisensperre ins teure Brasilien pilgern, viele davon ohne Tickets. Fußballboss und FIFA-Mann Grondona weilt bereits in Brasilien. Während die FIFA immer heftiger wegen der Vergabe der WM 2022 an Katar kritisiert und über Korruption spekuliert wird, schweigt Julio Grondona dazu. Für ihn gilt, was auf seinem Goldring steht: "Todo pasa".
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