von Tilmann Galler, Kapitalmarktstratege bei J.P. Morgan Asset Management
Der Mai sollte ein Monat voller frühlingshafter Dynamik und Optimismus sein. Eine viel zitierte Börsenweisheit legt jedoch nahe, dass Vorsicht geboten ist: "Sell in May and go away" - das heißt, am besten alles verkaufen und sich ganz von den Märkten zurückziehen. Auch wenn man versucht ist, diesen Spruch vollends zu ignorieren, ist die Angst auf den Märkten seit jeher eine treibende Kraft. Nach einem Blick in den Kalender und einer kurzen Analyse ihrer Stimmungslage könnten Anleger zu dem Schluss kommen, diesen Ratschlag zu beherzigen. Doch wir sehen mindestens fünf gute Gründe, dies nicht zu tun:
1. Bei Betrachtung der S&P-500-Daten der letzten 40 Jahre, wird deutlich, dass der durchschnittliche Monatsertrag von Monat zu Monat schwankt. So variierte er zwischen 1,9 Prozent im November und -0,4 Prozent im September -übrigens der einzige Monat, der im Durchschnitt einen negativen Ertrag verzeichnet. Diese Unterschiede zwischen den monatlichen Durchschnittswerten erscheinen jedoch verschwindend gering, wenn die normalen monatlichen Ertragsschwankungen berücksichtigt werden. Unter rein statistischen Gesichtspunkten bedeutet das, dass die Unterschiede zwischen den monatlichen Durchschnittserträgen in der Regel nicht über Zufallsschwankungen hinausgehen.
2. Es gibt keine überzeugende Theorie, die stichhaltige Gründe dafür liefert, weshalb der Markt in den Sommermonaten besonders schwach sein sollte. Nicht nur die Bullen verschwinden in den Sommerurlaub, sondern auch die Bären.
3. Selbst wenn die Daten eine statistisch signifikante Regelmäßigkeit aufweisen würden: Eines der grundlegenden Konzepte der Finanzmarkttheorie besagt, dass das Wissen über diese Regelmäßigkeit diese alsbald untergraben dürfte. Wenn es so eine gute Idee wäre, im Mai zu verkaufen, müssten die Märkte im Mai regelmäßig nachgeben. Würde dies zutreffen, wäre es strategisch weitaus klüger, im April zu verkaufen, bevor im Mai die große Schwächephase beginnt. Und wenn die Anleger diesem Ratschlag massenweise folgen würden, würde die Marktschwäche im April beginnen, nicht im Mai, und so weiter und so fort.
4. Abgesehen davon, dass es generell problematisch ist, die eigenen saisonalen Kenntnisse zu nutzen, um Anlegern, die mit den saisonalen Entwicklungen weniger vertraut sind, die Butter vom Brot zu nehmen: Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass man sich gerade im Sommer 2016 vom Markt fernhalten sollte. Im ersten Quartal ging der operative Gewinn je Aktie des S&P 500 gegenüber dem Vorjahr zurück, während das reale BIP-Wachstum annualisiert bei 0,5 Prozent lag und damit offensichtlich ein äußerst langsames Tempo einschlug. Der Aktienmarkt wird vermutlich in einem gewissen Umfang dadurch ausgebremst, dass nicht klar ist, inwiefern sich diese beiden Faktoren in der zweiten Jahreshälfte verbessern werden. Wir sind jedoch der Ansicht, dass es im zweiten Halbjahr 2016 zu einer deutlichen Gewinnerholung kommen wird, vorausgesetzt, die Ölpreise und der US-Dollar bleiben ab jetzt stabil. Darüber hinaus war die schwache Entwicklung des BIP im ersten Quartal größtenteils auf den Lagerabbau und zurückhaltende Energieinvestitionen zurückzuführen. Dieser Gegenwind dürfte in der zweiten Jahreshälfte abflauen - und wenn die Unternehmensgewinne steigen und das BIP wächst, kann auch der Aktienmarkt besser abschneiden.
5. Eine wichtige Frage ist nicht zuletzt: Wo investiert man, wenn man im Mai der Börse den Rücken kehrt? In einem stagnierenden Umfeld lassen extrem niedrige Anleiherenditen festverzinsliche Anlagen unattraktiv erscheinen - und in einem im Aufschwung befindlichen Umfeld riskant. Der Ertrag von Sparkonten liegt aufgrund der ultralockeren Geldpolitik der Notenbanken nahe null.
Für Anleger, die über den Sommer hinweg investiert bleiben möchten, dürften die Nachrichten der nächsten Woche ein gemischtes Bild ergeben. Die Einkaufsmanagerindizes - einerseits in den USA, aber auch weltweit - werden sich voraussichtlich weiter schwach entwickeln, auch wenn Europa offensichtlich etwas besser da steht als die USA oder Asien. Der Absatz von Pkw und leichten Nutzfahrzeugen in den USA dürfte sich dagegen äußerst positiv präsentieren und liegt auf das Jahr hochgerechnet bei über 17 Millionen.
Wie immer kommt es in der ersten Woche des Monats jedoch vor allem auf die monatlichen US-Arbeitsmarktzahlen an, die am Freitag veröffentlicht werden. Auch wenn die Daten zum realen BIP im ersten Quartal schwach ausfielen, sind die Beschäftigungsindikatoren nach wie vor stark. So gehen wir davon aus, dass im April erneut mehr als 200.000 Arbeitsplätze geschaffen wurden und dass das Lohnwachstum nach der kürzlich schwachen Entwicklung wieder angezogen ist. Diese kontinuierlichen Beschäftigungszuwächse dürften die Verbraucherausgaben und den Wohnungsmarkt ankurbeln und die öffentlichen Haushalte stützen. Möglicherweise werden sogar äußerst vorsichtige Unternehmen dazu ermutigt, ihre Investitionsvorhaben verstärkt voranzutreiben. Kurzum: Der Wirtschaftsausblick scheint sich aufzuhellen und es spricht einiges dafür, in diesem Mai investiert zu bleiben.
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