Da ist es nicht verwunderlich, dass die defensiven Aktien in der Bewertung schon lange nicht mehr günstig sind. Erschwerend kommt hinzu, dass Unternehmen wie Nestlé, AB Inbev, Coca Cola und Co. schon seit einigen Jahren deutlich schwächer wachsen als die globale Inflation. Um attraktiv zu bleiben, suchen defensive Unternehmen zunehmend ihr Heil in finanztechnischen Maßnahmen. Dazu gehörten Aktienrückkäufe und Dividendenzahlungen, dank niedriger Zinsen auch gerne auf Kredit. Durch die Rückkaufsprogramme stiegen die Gewinne je Aktie trotz stagnierenden Geschäfts. Spätestens seitdem 2018 aber das eine oder andere aufstrebende Schwellenland Schwächen zeigte, sind Anfälligkeiten im Kerngeschäft kaum noch zu verstecken. Dies war bei der Gewinnwarnung des Bierherstellers AB Inbev Ende Oktober zu beobachten, die zu einer Halbierung der Dividendenzahlungen führte.
Umso mehr überrascht es, dass die Gunst der Anleger weiterhin bei defensiven Titeln liegt. Die Kursstärke der defensiven Werte bei gleichzeitiger Schwäche der zyklischen Titel hat dazu geführt, dass heute überraschende Bewertungskonstellationen auftreten: Zum Beispiel wird heute die Aktie von "Campbell Soup" am Aktienmarkt mit einem KGV von 16 für 2019 bewertet. Damit gehört die Aktie eigentlich zu den günstigsten Titeln im defensiven Segment, viele Aktien im Nahrungsmittelbereich weisen auch KGVs jenseits der 20 auf. Campbell Soup ist Weltmarktführer im Bereich der Fertigsuppen (u.a. "Erasco") - ein Segment, welches in der Vergangenheit weder durch Innovationen noch Wachstum hervorstach. Das KGV von Campbell Soups liegt damit auf einer Höhe mit dem um die Barliquidität bereinigten KGV des Unternehmens Alphabet (16). Alphabet ist mit Google Weltmarktführer für digitale Werbung, Weltmarktführer für Smartphonebetriebssysteme und eines der führenden Unternehmen in Bereichen der künstlichen Intelligenz und des Cloudcomputings.
Das langfristige Wachstum der Unternehmensumsätze über die nächsten fünf Jahre hinweg wird laut Bloomberg für Alphabet auf 18% pro Jahr geschätzt, für Campbell Soup auf 3,5%. Nach der Faustformel "Wachstum zu einem vernünftigen Preis" kann man das aktuelle KGV in Relation zum erwarteten langfristigen Wachstum setzen. Danach wären Alphabet günstig bewertet, Campbell Soup hingegen sehr teuer.
Augenscheinlich bekommen immer mehr Anleger Angst davor, dass die Weltwirtschaft an Schwung verliert und stoßen daher die Werte, die vom starken volkswirtschaftlichen Wachstum profitieren, ab. Schlittern aber zukünftig weitere Emerging Marktes und deren Währungen in die Krise, dürften die defensiven Unternehmen, die diesen Ländern ebenfalls stark expandiert sind, unseres Erachtens nicht viel mehr Sicherheit bieten als der breite Markt. Außerdem verpassen Anleger Chancen im Technologiebereich, in dem aktuell derzeit so viele disruptive Energie freigesetzt wie zuletzt in der industriellen Revolution. Zudem sind deren Titel (siehe Alphabet/Google) nicht zu hoch bewertet, genauso wie sich auch die breite Aktienmarktbewertung des S&P 500 jüngst wieder bei einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 16,2 eingependelt hat. Es liegt damit im fairen historischen Bereich.
Der Trend hin zu dividendenstarken Titeln hat zu einem hohen Bewertungsaufschlag bei diesen Titeln geführt. Dieser kann bei der derzeitigen Sorge um eine mögliche konjunkturelle Abkühlung sogar noch weiter zunehmen. Das Risiko eine rKorrektor in diesem Sektor steigt damit weiter an. Bereits kleinere Verbesserungen in den Wachstumserwartungen können hier zu einer spürbaren Änderung im Anlegerverhalten führen.
Stefan Bielmeier ist Chefvolkswirt der DZ-Bank.