In der Regel stellt €uro am Sonntag immer nur einen "Kopf der Woche" vor. Zum Jahresende lassen wir gleich zwei interessante Persönlichkeiten zu Wort kommen: Folker Hellmeyer und Markus Steinbeis verfügen über profunde Kenntnisse und langjährige Erfahrung. Nach verantwortungsvollen Positionen bei Bankinstituten oder Investmentgesellschaften haben sie sich selbstständig gemacht und Fondsboutiquen gegründet. Die Freiheit nutzen sie, um ihre eigenen Investmentideen umzusetzen. Diese beruhen auf intensiven Analysen, die weit über das Lesen von Unternehmensbilanzen hinausgehen. "Der Einfluss insbesondere der Notenbanken auf die Kursentwicklungen hat in den vergangenen Jahren enorm zugenommen", sagen beide. Die Droge billiges Geld sei riskant. Doch daraus erwachsen auch Chancen - nicht nur für Anleger, sondern auch für die Politik.
€uro am Sonntag: Die neue EZB-
Chefin Christine Lagarde will sich um eine "klarere Sprache" bemühen. Hat ihr Vorgänger Mario Draghi vor allem den deutschen Sparern die Komplexität der Geldpolitik zu wenig erklärt?
Folker Hellmeyer:
Die Marktteilnehmer haben Draghi immer genau verstanden. Gegenüber dem deutschen Sparer hat er sich weniger erklärt, auch weil die EZB am Rand ihres gesetzlichen Mandats handelt. Die Sparer wiederum üben Kritik losgelöst von den Kausalitäten, die tiefe Zinsen und Anleihekäufe erfordert haben. Zur EZB-Politik gab es nur eine Alternative, nämlich ein Crash mit fatalen Folgen für eine globalisierte Wirtschaft. Ich meine: Es kommt nicht so sehr auf Worte an, es zählen die Resultate der Geldpolitik.
Die fallen gut aus?
Hellmeyer:
Ja, das Finanzsystem stand vor dem systemischen Kollaps, dank "what ever it takes" wurde er abgewendet. Das Experiment - das ist die Geldpolitik der EZB - ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Ob es gelingt, wird man sehen.
Herr Steinbeis, gibt es auch von Ihnen Lob für die EZB?
Markus Steinbeis:
Nicht uneingeschränkt. Das Krisenmanagement der EZB kann man sicher nicht hoch genug bewerten. Meiner Meinung nach haben auch die politischen Parteien die Leistungen der EZB der Öffentlichkeit gegenüber zu wenig gewürdigt. Ich bin aber nicht mit allem einverstanden. Die eigentliche Ursache für die Finanzkrise ist, dass insbesondere die Industriestaaten seit Generationen über ihre Verhältnisse leben. Das Problem kann die EZB lösen. Und: Die Kollateralschäden der Politik des billigen Geldes sind nicht zu unterschätzen.
Zum Beispiel?
Steinbeis:
Der Realzins wird auf Jahre nicht nach oben steigen können. Das hat Folgen für die Bepreisung von Assetklassen und droht zu vermehrten Fehlinvestitionen zu führen. Der deutsche Sparer ist zunehmend im Risiko, er muss sein Verhalten ändern. Wir laufen zudem Gefahr, der Droge des billigen Geldes immer mehr zu verfallen. Und es ist im Gegensatz zu den USA nicht gelungen, das Bankensystem in der Eurozone zu rekapitalisieren. Ein funktionierender Bankenapparat ist jedoch für deutsche und europäische Unternehmen von existenzieller Wichtigkeit. Unser mittelständisches Erfolgsmodell ist gefährdet.
Ist der Gesetzgeber bei der Regulierung der Banken zu weit gegangen?
Hellmeyer: Ja, er hat die Handlungsfähigkeit der Institute eingeschränkt. Das ist ja auch der Grund, warum die Banken mit der billigen Liquidität nicht viel anfangen können. Die ökonomische Wirkung droht zu verpuffen. Mich besorgt ein weiterer Punkt: Wir haben in den 90er-Jahren für die Banken ein prozyklisches Finanzierungssystem etabliert, was in Krisenzeiten die Lage nur verschlimmert. Die letzten antizyklischen Kräfte zur Abwehr von Finanz- und ökonomischen Krisen werden so immer der Staat und die Notenbanken bleiben.
Wird es Lagarde gelingen, das Inflationsziel von zwei Prozent zu erreichen?
Hellmeyer:
Erstens: Die zwei Prozent sind wissenschaftlich in keiner Weise fundiert. Und schon gar nicht kann man für in ihrem Reifegrad unterschiedliche Volkswirtschaften das gleiche Inflationsziel festlegen. Zweitens: Notenbanken können nur die Kerninflationsrate beeinflussen. Die aber war noch nie negativ. Die Gesamtpreisrate wird weitgehend von exogenen Faktoren wie etwa dem Ölpreis bestimmt, der reagiert auf Angebot und Nachfrage und nicht auf Zinsentscheidungen der EZB.
Das Zwei-Prozent-Ziel dient nur zur Begründung der expansiven geldpolitischen Maßnahmen?
Steinbeis:
Ja. Ich sehe derzeit keine deflationären Risiken. Die hoch verschuldeten Staaten in der Eurozone vertragen keine steigenden Realzinsen. Doch es macht keinen Sinn, die Zinsen weiter in den Negativbereich zu treiben. Die aktuell nachlassende Konjunktur ist vor allem auf den Handelskrieg der USA mit China zurückzuführen. Strafzinsen für Banken lösen die damit einhergehenden Probleme nicht.
Bietet die EZB-Politik auch Chancen?
Die ökonomischen Strukturen in Deutschland könnten nachhaltig verbessert werden, ohne die Verschuldung in die Höhe zu treiben. Insbesondere im Bereich Infrastruktur herrscht riesiger Nachholbedarf. Auch der für die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft so entscheidende Bereich Bildung wurde bislang stiefmütterlich behandelt. Deutschland und Europa stehen im Vergleich zu den USA deshalb deutlich schlechter da. Doch leider ist die Politik auf die schwarze Null fixiert. Das ist nicht nur fahrlässig, sondern ein Verbrechen an künftigen Generationen.
Das Börsenjahr 2019 geht zu Ende.
Wie fällt Ihr Fazit aus?
Steinbeis: Ein Jahr der Überraschungen. Wir waren im vierten Quartal 2018 sehr vorsichtig eingestellt, insbesondere dem US-Markt gegenüber, auch wenn dieser dann Ende Dezember schon sehr niedrig bewertet war. Nach vier Zinserhöhungen im Jahr 2018 hatte die US-Notenbank für 2019 zwei weitere Erhöhungen angekündigt. Wir haben uns gefragt, wann die hochgradig kreditfinanzierte US-Wirtschaft Stresssymptome bekommt. Doch schon im Januar vollführte die US-Notenbank die Kehrtwende und begann die Zinsen wieder zu senken.
Für Unsicherheit sorgte auch der Handelsstreit?
Steinbeis: Einerseits drohte der Zusammenbruch gesamter Lieferketten. Andererseits schien im Hinblick auf das Wahljahr 2020 zumindest ein vorübergehender Waffenstillstand nicht unwahrscheinlich. Dass die US-Börsen sich dann aber so stark entwickelten, haben wir nicht erwartet.
Wie sind Sie ins Jahr 2019 gestartet?
Hellmeyer:
Wir waren zu Beginn des Jahres vorsichtig optimistisch eingestellt. Die Korrektur im vierten Quartal 2018 war unserer Einschätzung nach fundamental nicht gerechtfertigt. Auch erschien uns eine erneute geldpolitische Lockerung der US-Notenbank nicht unwahrscheinlich. So ist es denn auch gekommen. Die Fed hat die Zinsen im Lauf des Jahres gleich dreimal gesenkt. Auch in vielen andern Ländern, etwa in Australien oder Russland, haben die Notenbanken die Zinsen nach unten gedrückt und damit die Aktienmärkte weltweit kräftig unterstützt. Mit dem Börsenjahr 2019 sind wir hoch zufrieden.
Erkennen Sie am deutschen Aktienmarkt Übertreibungen nach oben?
Hellmeyer:
Nein, wir haben mittlerweile faire, nur in einigen Fällen sportliche Bewertungen. Aber das muss Anleger nicht beunruhigen. Deutsche Aktien bleiben attraktiv, der DAX bringt es auf eine durchschnittliche Dividendenrendite von rund drei Prozent. Auch im kommenden Jahr sind ordentliche Kursgewinne drin. Für ein weiteres gutes Börsenjahr spricht auch eine wieder stärker wachsende globale Konjunktur.
Der IWF prognostiziert für 2020 ein Plus von 3,4 Prozent.
Hellmeyer:
Richtig, und die Eurozone wird wohl um 1,2 Prozent zulegen. Der Grundmotor der Weltwirtschaft ist also vollkommen intakt. Ich kann mir gut vorstellen, dass der bislang schwache Industriesektor in Deutschland und Europa einen positiven Ergebnisbeitrag leisten wird, der mit Kurssteigerungen einhergehen sollte.
Welche Besonderheiten hat das Börsenjahr 2019 noch mit sich gebracht?
Steinbeis:
Es war sehr heterogen. Es gab in der Historie bislang keine solche Spreizung in puncto Kursentwicklungen und den Bewertungen zwischen der US-Börse und dem europäischen Aktienmarkt. Noch dazu gibt es erhebliche Bewertungsdiskrepanzen zwischen den Branchen. Technologiewerte und nicht zyklische Bereiche sind extrem gut gelaufen. Der zyklische Bereich dagegen, also der Sektor, der bislang in keiner Weise von Stimulierungsmaßnahmen der EZB profitiert hat, ist auf Bewertungsniveaus gefallen, die wir zuletzt in der Finanzkrise gesehen haben. DAX-Werte wie BASF oder Siemens sind extrem günstig. Diese Value-Unternehmen dürften von einem Anspringen der Investitionstätigkeit stark profitieren.
Sollen Anleger Europa übergewichten?
Hellmeyer:
Ich bin sehr zuversichtlich, dass künftig vermehrt Kapital nach Europa, aber auch Asien fließen wird. Internationale Investoren haben sich in den beiden Regionen, deren Indizes stark zylisch-exportorientiert geprägt sind, bislang nicht allzu stark engagiert. Das dürfte sich ändern. Der Nachholbedarf nach Maschinen und anderen Exportgütern aus diesen beiden Wirtschaftsräumen ist hoch. Ich bin weniger zuversichtlich für den US-amerikanischen Markt. Die Bewertungen sind sehr hoch. Auch werden die USA von einem Kreditzyklus getragen, der schon sehr weit gediehen ist. Die Gefahr einer Rezession sehe ich aber nicht.
Herr Steinbeis, sind auch Sie positiv
für die Eurozone eingestellt?
Steinbeis:
Die Bewertungen sind nicht zu hoch, zudem verbessert sich die Einkommenssituation. Die südeuropäischen Staaten haben sich deutlich erholt, das unterstützt den Konsum. Der Kontinent steht vor einer Renaissance.
Machen deutsche beziehungsweise europäische Anleihen in einem gut diversifizierten Portfolio noch Sinn?
Steinbeis:
Es gibt immer wieder Opportunitäten, Kursgewinne sind möglich. Ein struktureller oder strategischer Baustein ist die Anlageklasse aber nicht mehr. Anleihen sind mit Risiken behaftet, die nicht angemessen entlohnt werden. Solange es nicht zu wirtschaftlichen Verwerfungen kommt, sind Anleihen keine Alternative zu Sachwerten.
Anleihen aus den Emerging Markets sind attraktiver?
Hellmeyer:
Eindeutig. Ich sehe dramatisch gute Chancen in strukturell starken Schwellenländern beziehungsweise in Anleihemärkten, die nicht politisch eingepreist oder politisch falsch eingepreist werden. Ich favorisiere zum Beispiel russische Staatsanleihen in lokaler Währung. Bei einer Preisinflation von 3,8 Prozent bietet der zehnjährige Bond 10,7 Prozent per annum. Das ist eine faire Chance-Risiko-Bewertung, zumal der Rubel an Stärke gewinnen kann.
Aus welchen Ecken drohen den Finanzmärkten im kommenden Jahr "Schwarze Schwäne"?
Steinbeis:
Die drohen leider immer. Unvorhergesehene Gefahren können sich vor allem aus der Geopolitik ergeben, etwa wenn der Handelsstreit entgegen der Erwartungen doch eskalieren sollte.
Hellmeyer: Neben geopolitischen Risiken erwachsen den Märkten Gefahren aus einer esoterischen Klimadebatte. Um die Welt zu retten, könnte die Politik Entscheidungen treffen, die der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen schaden.
Vita:
Folker
Hellmeyer
begann seine Karriere 1984 als Devisenhändler bei der Deutschen Bank in Hamburg und London. 1995 wechselte er zur Helaba Bank in Frankfurt am Main. Von 2002 bis 2017 war er Chefanalyst bei der Bremer Landesbank. 2018 gründete er die Fondsboutique Solvecon Invest GmbH in Bremen, bei der er Chefanalyst und Gesellschafter ist.
Vita:
Markus
Steinbeis
ist Gründer und geschäftsführender Gesellschafter der Steinbeis & Häcker Vermögensverwaltung GmbH. Zuvor war er Leiter des Portfoliomanagements bei Huber, Reuss & Kollegen Vermögensverwaltung. Internationale Erfahrung sammelte er bei Pioneer Investments, wo er als Leiter des Aktienbereichs und Fondsmanager für große institutionelle Mandate verantwortlich war.