Von der Decke regnen weiße und roséfarbene Rosen aus schneeweiß gestrichenem Reisig, die lederbezogenen Wände zieren winterliche Visionen des Sees vor der Tür, die blankgezogenen Tische sind mit schlicht-schönem Porzellan und Gläsern eingedeckt.
Dies ist die Bühne eines der derzeit besten Köche weltweit und hierzulande womöglich der beste. Sein Auftritt zum Gespräch mit dieser Zeitung ist dennoch frei von Allüren: "Ich möchte nicht morgens in mein Restaurant kommen und mir den Ring küssen lassen." Und er hebt, so oft es geht, die Arbeit in seiner Küche als Mannschaftsleistung hervor. Vielleicht ist dies das Geheimnis seines Erfolgs: Christian Jürgens sieht seinen Job, wie vieles in seinem Leben, sportlich.
Euro am Sonntag: Herr Jürgens, sind Sie Koch oder Künstler?
Christian Jürgens: Ein Künstler kann seine Arbeit nur verrichten, wenn ihn die Muse küsst. Aber wir haben von Mittwoch bis Sonntag Gäste. Denen kann ich nicht sagen, heute passt’s mir nicht, weil die Muse mich noch nicht geküsst hat.
Seit 1998 haben Sie Sterne erkocht, seit 2013 sogar drei. Wie groß ist der Druck?
Ich muss liefern. Verlieren ist keine Option. Schon Unentschieden reicht nicht. Und Arbeitssiege will auch keiner sehen. Jeden Abend erwartet der Gast an jedem Tisch bei jedem Teller mit Fug und Recht Freistöße aus 30 Metern ins obere Kreuz, Fallrückzieher, Torpedo-Kopfball, egal ob es Ihnen gut geht, ob ein Koch ausgefallen oder der Fisch nicht rechtzeitig gekommen ist.
Aber weiter rauf geht’s doch nicht?
Schauen Sie, Roger Federer hat alles gewonnen. Aber hat er aufgehört, sein Tennis zu verbessern? Bei mir heißt der Sport Kochen. Und solange ich in den höchsten aller Ligen mitspiele, möchte ich gut vorbereitet und perfekt sein. Es ist übrigens ein Mannschaftssport.
So wie Bayern München die Champions League gewonnen hat, nicht Hansi Flick?
Ich hatte kürzlich das große Glück, mit ihm zu sprechen, und wir haben in der Tat viele Gemeinsamkeiten festgestellt.
Wie locker darf die Atmosphäre in einem Sternerestaurant werden?
Ich mag es locker und leger. Ja, wir werden von dem maßgeblichen Führer für Kulinarik mit der höchsten Auszeichnung bedacht. Trotzdem bleiben wir ein Gasthaus, keine Kathedrale, in der man die Stecknadel fallen hört. Wir wollen nicht predigen. Wir wollen Freude schenken. Kurze Hosen fände ich befremdlich. Aber ein schöner Pulli und eine schöne Hose reichen vollkommen. Und die Stimmung? Ich freue mich, wenn unsere Gäste lachen, Spaß haben, wenn die Gläser klingen. Wenn Sie vor lauter Glück auf den Tisch springen möchten, tun Sie es. Wir passen auf, dass Sie nicht herunterfallen.
Laien fremdeln mit dem Preisniveau der Sterneküche. Ein Sieben-Gänge-Menü kostet in der Überfahrt 319 Euro. Rechnen Sie mal vor: Wie viel geht dabei für die Produkte drauf, wie viel für die Mitarbeiter, wie viel für die Saalmiete?
Die größte Investition sind die Mitarbeiter. Da sind wir schon weit über der Hälfte. Dabei müssten wir schauen, dass wir ihnen noch mehr zugutekommen lassen. Da würde ich mir wünschen, dass auch der Gesetzgeber etwas tut, um uns die Last der ganzen Sozialabgaben von den Schultern zu nehmen.
Und der zweite große Posten?
Lebensmittel. Da reden wir heute übrigens nicht mehr über den Preis, sondern woher wir sie überhaupt bekommen. Auch der Aufwand, unser Geschirr, unsere Gläser, ist sehr kostspielig. Und wir müssen Miete zahlen; wir sind ja im Hotel Shop im Shop.
Es fällt auf, dass Spitzengastronomie oft mit Spitzenhotellerie partnert. Geht es wirtschaftlich nur so?
Kevin Fehling ist jedenfalls momentan der einzige deutsche Drei-Sterne-Koch, der sein Restaurant ("The Table", Hamburg) nicht in einem Hotel betreibt. Ich bin jetzt zwölf Jahre in diesem Haus. Wir helfen dem Seehotel, attraktiv zu sein, und profitieren davon, dass unsere Gäste nicht lang nach einem Bett suchen müssen. Wir könnten aber auch allein überleben, übrigens mit einer sehr anständigen Unternehmensbilanz.
Aus der Branche hört man Klagen, dass es nach Corona schwieriger und teurer geworden ist, Personal für Küche und Service zu finden. Spüren Sie das auch?
Es ist eine Verdrossenheit unter den Mitarbeitern in der Gastronomie entstanden, egal ob mit oder ohne Stern. Die haben, wie in der Gastronomie üblich, von einem Grundgehalt gelebt, aber zu einem bedeutenden Anteil auch von Trinkgeld. Gott sei Dank standen sie hier in Deutschland durch das Kurzarbeitergeld nicht ganz mittellos da. Aber ihnen ist doch ein erhebliches Stück weggebrochen. Das sind Menschen, die immer mit ihrem Einsatz auffallen werden. Warum sollen sie sich nicht überlegen, an einen sicheren Arbeitsplatz zu wechseln, der sie nicht zu Tages- und Nachtzeiten in Anspruch nimmt, in denen andere frei haben?
Sie sind nicht nur Chefkoch, sondern auch Geschäftsführer des Restaurants "Überfahrt". Wie oft liegen Sie miteinander im Clinch?
Die verstehen sich eigentlich ganz gut. Weil beide immer Konstantin Weckers Songtitel "Genug ist nicht genug" befolgen. Der Geschäftsführer sitzt dem Küchenchef nicht mit Zahlen im Nacken, weil er weiß, dass der seine Arbeit nur dann gut machen kann, wenn er die nötige Freiheit bekommt. Und der Küchenchef geht verantwortungsvoll mit dieser Großzügigkeit um, weil er weiß, dass seine Kunst nur Bestand hat, wenn das Geschäft auch funktioniert.
Bedeutet Geld für Sie Unabhängigkeit?
Es ist eher, als wäre ich Weltmeister in Halma: Das, was ich tue, mache ich ganz gut. Aber hinten kommt zu wenig raus. Man muss deshalb kein Spendenkonto einrichten für mich. Aber für den Aufwand ist das Ergebnis nicht wie bei einem Fußballspieler oder einem Vorstand. Sie schmeißen jeden Tag alles in die Waagschale, riskieren jeden Tag Kopf und Kragen, weil immer ein Michelin-Tester im Restaurant sitzen und das Drei-Sterne-Märchen vorbei sein könnte. Dazu steht der Verdienst in keiner Relation.
Und auf welches Rezept setzen Sie für die Vermögenssicherung?
Auf Silber! Die Schere zu Gold ist immer noch groß. Es wird, etwa im Bereich Erneuerbarer Energien oder Elektromobilität zunehmend gebraucht, das Förderpotential ist aber begrenzt. Das könnte zu Engpässen führen und Investoren, die Short auf Silber sind, zu Deckungskäufen zwingen. Da sehe ich Chancen.
Aktien, Fonds, Anleihen?
Ich bin mit allem auf die Nase gefallen, weil ich, aus meiner Sicht, nicht richtig beraten wurde. Ich habe ja auch mal mit Turnaround-Kandidaten spekuliert oder Euro gegen Yen gewettet. Das war wie in die Spielbank zu gehen. Deshalb war ich über meine Verluste auch nicht sauer. Es wäre sicher klüger gewesen, nach dem letzten Börsencrash einfach nur in den DAX zu investieren. Aber da ich mich vollumfänglich mit Karotten, Kartoffeln, Fleisch und Fisch beschäftige, bin ich auf den Finanzmärkten überhaupt nicht beschlagen.
Und heute?
Arbeite ich mit einem privaten Finanzdienstleister zusammen, verfolge eine langfristige Anlagestrategie und bespare sie in monatlichen fixen Tranchen, die ich entbehren kann. Ich kaufe auch mal einen Krugerrand, für den Fall, dass irgendwann mal ein 100-Euro-Schein nicht mehr für ein paar Semmeln reicht. Aber gambeln möchte ich nicht mehr. Und ich achte darauf, nicht über meine Verhältnisse zu leben.
Vita:
Der Hungrige
Christian Jürgens, 1968 als Metzgerssohn in Unna geboren und "aus Zufall Koch geworden", bekommt 1998 im Münchner "Marstall" den ersten Stern, vier Jahre auf (der zu Conrad Electronic gehörenden) Burg Wernberg in der Oberpfalz den zweiten. Seit 2008 kocht er im "Althoff Seehotel Überfahrt", sein Restaurant wird seit 2013 von Michelin mit drei Sternen bewertet. Jürgens ist verheiratet und hat drei Kinder.