Die seit vielen Jahren intensiv diskutierte Cannabisfreigabe in Deutschland scheint mit der neuen Regierung nun Realität zu werden. Seit 2017 ist in Deutschland der Einsatz von Cannabis zu medizinischen Zwecken etwa zur Schmerzlinderung bei Krebspatienten erlaubt. In ihrem Koalitionsvertrag haben sich die Ampelparteien nun auf die Einführung einer kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene auch zu Genusszwecken in lizenzierten Geschäften geeinigt. Mit diesem Schritt sieht die Koalition die Möglichkeit, die Weitergabe verunreinigter Substanzen zu verhindern und den Jugendschutz zu gewährleisten, heißt es in dem Papier. Nach vier Jahren soll das geplante Gesetz auf seine gesellschaftlichen Auswirkungen überprüft werden. Zu den guten Argumenten für eine kontrollierte Freigabe und eine Gleichstellung mit Alkohol oder Tabak dürften auch finanzielle Aspekte gezählt haben. Auf mehr als 4,7 Milliarden Euro taxiert eine Studie des Wirtschaftswissenschaftlers Justus Haucap vom Düsseldorf Institute for Competition Economics (DICE) an der Heinrich-Heine-Universität die zusätzlichen Mittel für den Staat, die sich zu einem großen Teil aus zusätzlichen Steuereinnahmen, andererseits aber auch aus Einsparungen bei den Strafverfolgungsbehörden zusammensetzen. Auf Basis der Mengenschätzungen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) dürfte das jährliche Marktvolumen von medizinisch genutztem Cannabis in Deutschland derzeit bei 200 bis 225 Millionen Euro liegen, das Potenzial bei einer vollständigen Freigabe bei einem Vielfachen davon.
Setzt man die deutsche Bevölkerungszahl ins Verhältnis zum kanadischen Markt, der sich in den vergangenen Jahren seit der Legalisierung von Cannabis auf über vier Milliarden US-Dollar entwickelt hat, scheint ein Marktvolumen von zehn Milliarden Euro in absehbarer Zeit erreichbar. Während Branchengrößen wie Tilray in weiser Voraussicht bereits in den vergangenen Jahren erste Vertriebsstrukturen nach Deutschland aufgebaut haben, bringen sich weitere Player wie Synbiotic in Stellung, deren Chef Lars Müller ein "Starbucks für Cannabisprodukte" aufbauen möchte.
Die Signale aus einer führenden Industrienation wie Deutschland dürften auch andere Staaten ermutigen, die Legalisierungsbestrebungen voranzutreiben. In Ländern wie den Niederlanden, der Schweiz, Portugal oder Belgien ist Cannabis weitestgehend entkriminalisiert. Kanada hat den Konsum zu Erholungszwecken 2018 freigegeben und im weltweit größten Markt, in den USA, dürfte eine Legalisierung auf Bundesebene wohl auch nur noch eine Frage der Zeit sein. In mehr als einem Drittel aller US-Bundesstaaten ist Cannabis inzwischen schon freigegeben, die legalen Verkäufe haben gegenüber dem Vorjahr von 18,6 Milliarden auf 24 Milliarden US-Dollar zugelegt und dürften im kommenden Jahr erstmals die Marke von 30 Milliarden US-Dollar erreichen.
Überzogener Abverkauf
Trotz der starken Zuwächse und der hervorragenden Wachstumsperspektiven der Branche haben Investoren in diesem Jahr einen großen Bogen um den Sektor gemacht. Der North American Marijuana Index verlor gegenüber den Anfang Februar erreichten Jahreshochs über 60 Prozent und kam damit auf das Niveau zurück, auf dem der Index im vergangenen Spätjahr notierte. Das gerade in Nordamerika beliebte "Tax Loss Selling", bei dem schlecht gelaufene Positionen aus steuerlichen Gründen zum Jahresende verkauft werden, hat den Verkaufsdruck innerhalb des Sektors zuletzt noch einmal erhöht. Branchenbeobachter sehen deshalb gute Chancen, dass dies nun der abschließende Ausverkauf innerhalb des Sektors sein wird. So werden die großen US-Titel derzeit im Schnitt mit dem Sechs- bis Siebenfachen des für 2022 erwarteten Ebitda bewertet - weniger als die Hälfte der zu Jahresbeginn erreichten Bewertung.
Einzelne Analysten bezeichnen die Bewertungen der führenden US-Cannabisunternehmen inzwischen gar als so attraktiv wie nie zuvor. Wenngleich die Branche mit mehreren 10 000 Anbietern in den USA weiterhin als stark fragmentiert gilt, haben gerade die sogenannten Multi-State-Operators (MSOs) - lizenzierte Anbieter, die in mehreren US-Bundesstaaten aktiv sind - mittlerweile eine kritische Größe erreicht und dürften im kommenden Jahr knapp ein Drittel aller legalen Cannabisumsätze auf sich vereinen. Ein gutes Beispiel ist das Unternehmen Trulieve Cannabis, das in Bezug auf die Profitabilität immer wieder als Goldstandard bezeichnet wird. Der Nummer 1 in den US-Bundesstaaten Florida, Arizona und Pennsylvania trauen Analysten nächstes Jahr Umsätze von über 1,4 Milliarden US-Dollar zu. Das wäre ein Anstieg um etwa 50 Prozent im Vergleich zu diesem Jahr und eine knappe Verdreifachung im Vergleich zu 2019. Dabei soll die Gesellschaft einen Ebitda-Gewinn von 545 Millionen US-Dollar erreichen.
Quartalsberichte verfehlen Erwartungen
Zu den Topgesellschaften der Branche gehört auch Curaleaf. Das Unternehmen ist derzeit in 23 Bundesstaaten mit 108 Apotheken, 22 Anbau- und über 30 Verarbeitungsstätten tätig und beschäftigt mittlerweile über 5000 Menschen. Auch wenn Curaleaf mit den jüngsten Q3-Zahlen die Konsensschätzungen des Marktes nicht erreichen konnte, bleiben die Aussichten ungetrübt. Von 2020 bis 2023 sollen die Umsätze Analysten zufolge von 627 Millionen auf über 2,3 Milliarden US-Dollar und das Ebitda von 144 Millionen auf 796 Millionen US-Dollar zulegen.
Leicht unter den Analystenschätzungen meldete auch Ayr Wellness seine Ergebnisse zum dritten Quartal, gleichwohl verbietet sich mit Blick auf das Zahlenwerk jeder negative Kommentar: Im Vergleich mit dem Vorjahreszeitraum konnten die Erlöse von Juli bis September mehr als verdoppelt werden, im Gesamtjahr rechnet man mit einem Umsatzanstieg um 128 Prozent auf 354 Millionen US-Dollar. Geht man bei den Expansionsplänen der Gesellschaft mit, scheint eine weitere Umsatzverdreifachung in den nächsten beiden Jahren realistisch. Dann wiederum wäre die Aktie mit dem nur eineinhalbfachen Umsatz noch einmal deutlich günstiger als der Branchenschnitt bewertet. Wir hatten den Titel zwischenzeitlich herabgestuft, aber aufgrund der veränderten Umstände ist die Aktie nun wieder kaufenswert.
Während die regionale Ausbreitung und die Ergebnisse der Unternehmen also von Rekord zu Rekord eilen, notieren die Aktienkurse vieler Cannabisunternehmen auf Jahrestief. Für mutige Anleger bietet die Divergenz zwischen stark verbesserten Fundamentaldaten und der jüngsten Kursentwicklung deshalb eine attraktive Einstiegschance.