Euphorie sieht anders aus. Um mehr als die Hälfte rauschte die Aktie des USKurznachrichtendienstes Twitter seit dem Hoch kurz vor Weihnachten in die Tiefe. Anleger sind vom vermeintlichen Wunderkind der US-Internetszene inzwischen tief enttäuscht. Die Zahlen sind schlecht. Zwar sprang der Umsatz im ersten Quartal deutlich an, dennoch schrieb der Microblogging- Dienst tiefrote Zahlen. Schlimmer noch: Die Zahl der aktiven Nutzer der maximal 140 Zeichen umfassenden Botschaften wächst langsam - viel zu langsam.
Überdies verwirrte das Management Investoren an der Wall Street mit einem abrupten Strategiewechsel. Zum Börsengang im November hatte Twitter-Chef Dick Costolo noch steigende Nutzerzahlen zum zentralen Punkt der Wachstumsstrategie erklärt. Inzwischen rudert Costolo zurück. In Zukunft soll der Fokus offenbar auf der Reichweite der Kurznachrichten und dem Wert der eingebetteten Anzeigen liegen, berichten Insider. Börsianer reagierten verständlicherweise verärgert. Und auch Altaktionäre verkaufen: Nach dem Ablauf einer Haltefrist für Investoren der ersten Stunde brach die Aktie Anfang Mai zweistellig ein.
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Verluste auf breiter Front
Kurz und knapp im Twitter-Stil: Costolo hat’s verbockt. Doch die Aktie ist nicht die einzige im Techsegment, die unter die Räder kam. Ehemalige Überflieger wie die Sicherheitssoftwarefirma Fireeye verloren seit den Höchstständen im März rund 70 Prozent, Online-Trendsetter wie das Empfehlungsportal Yelp brachen um die Hälfte ein. Beim Onlinehändler Amazon verbrannte seit dem Hoch im Januar ein Viertel des Wertes, beim weltgrößten sozialen Netzwerk Facebook war es seit März ein Fünftel.
Keine Frage: Das Schlachtfest unter den Techs nimmt bedrohliche Ausmaße an. Allein die drei Internetriesen Amazon, Facebook und Google büßten von ihren Höchstständen vor wenigen Monaten rund 120 Milliarden Dollar Marktkapitalisierung ein - das entspricht dem Wert des DAX-Riesen Siemens.
Nicht wenige Investoren fürchten eine massive Überbewertung des Sektors wie zu Beginn der Jahrtausendwende. Der weltweit bekannte US-Hedgefondsmanager David Einhorn dürfte seinen Anteil daran haben. "Es gibt einen klaren Konsens, dass wir die zweite Techblase innerhalb von 15 Jahren erleben", schreibt der Gründer von Greenlight Capital in einem Brief an seine Investoren. "Grundsätzlich glauben wir zwar an Technologieaktien", so Einhorn, der auch Papiere des iPhone-Herstellers Apple oder des Speicherchipspezialisten Micron hält. Es gebe aber Dutzende Unternehmen, die unter normalen Bewertungsmaßstäben ein Abwärtspotenzial von mindestens 90 Prozent besäßen.
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Korrektur oder Crash?
Schon sind sie wieder da, die Untergangspropheten, die einen Crash ähnlich dem nach der Internethausse des Jahres 2000 prophezeien. Doch das Motiv für Einhorns drastische Ausführungen dürfte durchaus egoistisch sein: Der Hedgefondsmanager ist dafür bekannt, dass er Aktien leer verkauft, um sie später nach einem Kursverfall wieder günstig einzusammeln.
Unbestritten: Technologieaktien sind in den vergangenen Wochen und Monaten gut gelaufen. Der technologielastige US-Index Nasdaq zog seit Anfang 2013 zeitweise um 40 Prozent an und ließ den breiten amerikanischen Aktienindex S & P 500 deutlich hinter sich. Logischerweise sind auch die Bewertungen vieler Titel in schwindelnde Höhen geklettert. "Bei einzelnen Werten und in einzelnen Subsegmenten im Internetbereich hatten die Bewertungen schon sehr luftige Höhen erreicht", sagt Walter Holick, Technologieexperte und Fondsmanager der DWS.
Vor allem Aktien junger Unternehmen, die erst vor wenigen Monaten an die Börse gegangen sind, sind teilweise extrem heißgelaufen - siehe Twitter. Gemäß fundamentalen Kriterien ist das Papier auch nach dem jüngsten Kurseinbruch sündteuer: Der Börsenwert ist derzeit rund 900- mal so hoch wie der erwartete Jahresgewinn 2014 - falls es nach den massiven Verlusten im Auftaktquartal noch etwas damit wird.
Wenig verwunderlich, dass in einer Börsenphase wie in den vergangenen Wochen, in denen Verunsicherung beispielsweise bezüglich der Entwicklung in wichtigen Märkten wie China oder auch durch die Ukraine-Krise die Stimmung belastete, Luft aus diesen Blasen entweicht. Viele Beobachter wollen einen generellen Klimawechsel an den Märkten festgestellt haben. "Massive Überbewertungen sind nicht mehr schick, auch nicht bei Unternehmen mit großen Visionen", sagt etwa Robert Halver, Leiter der Kapitalmarktanalyse bei der Baader Bank.
Von einem Crash wie nach der Jahrtausendwende will derzeit indes kaum jemand sprechen. "Die Situation heute ist mit der im Jahr 2000 nicht zu vergleichen", sagt Andrew Goldberg, Marktstratege bei der USBank JP Morgan. Die jüngsten Kursrückschläge bezeichnet Goldberg als eine "gesunde Korrektur".
Die Bewertungskennziffern geben Goldberg recht: Von einer astronomischen Überbewertung wie im Jahr 2000 sind die US-Techwerte in der Breite weit entfernt. Das durchschnittliche Kurs-Gewinn-Verhältnis im US-Index Nasdaq 100 liegt derzeit bei gut 20. Als die Dotcom-Blase zur Jahrtausendwende platzte, betrug diese wichtige Kennziffer weit über 200.
Überdies sind Techs nicht gleich Techs. Hochriskanten Newcomern wie Twitter oder Fireeye stehen etablierte Großkonzerne gegenüber, deren Geschäftsmodelle sich seit Jahren oder Jahrzehnten bewährt haben, die große Marktmacht - und teilweise auch beeindruckende Cashbestände aufgebaut haben.
Dazu zählt etwa Google. Der größte Suchmaschinenbetreiber der Welt macht sein Geld zwar genau wie Twitter mit Werbung im Internet, doch dank eines Marktanteils von fast 90 Prozent bei der Internetsuche und damit der Weltmarktführung, einer beherrschenden Stellung im Onlinewerbemarkt und über 55 Milliarden Dollar Cash auf der hohen Kante spielt Google in einer ganz anderen Liga. Zwar kam auch die Aktie von Google von ihren Höchstkursen zurück - doch zuletzt stand die Aktie schon wieder auf der Einkaufsliste der Anleger.
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Fokus auf Substanz
An einigen Technologietiteln geht die Korrektur sogar komplett vorbei. "Die Anleger achten wieder verstärkt auf Substanz. Deshalb erwachen Werte wie Microsoft oder IBM aus ihrer Lethargie", sagt Marktstratege Halver. Die Aktie von Microsoft nimmt Kurs auf ein neues Mehrjahreshoch. Der neue Chef Satya Nadella will dem angestaubten Image des Softwareriesen aus Redmond einen neuen Anstrich verpassen und bietet etwa die mobile Variante des Betriebssystems Windows kostenlos an. Die neue Offenheit überzeugt die Anleger. Zudem wächst der Cash- Berg des Konzerns Jahr für Jahr um rund zehn Milliarden Dollar - zuletzt auf knapp 65 Milliarden Dollar.
Ähnlich stabil entwickelten sich die Papiere des IT-Konzerns IBM und die des Chipherstellers Intel. Beide zählen zu den "traditionellen" Technologiewerten im Bluechip-Bereich mit einem gefestigten Geschäftsfeld und einer soliden Bilanz.
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Twitter muss liefern
Welche Aktien nun auf David Einhorns Shortlist stehen, verrät der milliardenschwere Hedgefondsmanager aus verständlichen Gründen nicht. Twitter oder die hoch bewertete Fireeye könnten sich darauf durchaus finden. Facebook wohl eher nicht, die Aktie ist im Vergleich zum Kontrahenten Twitter geradezu spottbillig. Das Kurs-Gewinn-Verhältnis des weltgrößten Onlinefreundeskreises liegt knapp über 40. Das Gewinnwachstum wird für das laufende Jahr auf rund 60 Prozent geschätzt - eine durchaus attraktive Kombination.
Vor allem aber hat Gründer Mark Zuckerberg bewiesen, dass das Geschäftsmodell funktioniert. Facebook arbeitet im Gegensatz zum "Zwitscher"-Dienst hochprofitabel und verdient einen Großteil seines Geldes mit Werbeeinblendungen auf mobilen Geräten wie Smartphones. Twitter hingegen hat nicht nur Börsianer mit neuen Leitkennziffern vor den Kopf gestoßen - auch die Frage der Existenzberechtigung hängt in der Luft.
Denn schon kleine Fehltritte strafen Investoren ab. "Auslöser für Gewinnmitnahmen oder die Etablierung von Short-Positionen waren in einigen Fällen hinter den hohen Erwartungen zurückbleibende Quartalsergebnisse", sagt DWS-Fondsmanager Holick. Der Onlinehändler Amazon etwa verfehlte im ersten Quartal die Gewinnschätzungen.
Konzernchef Jeff Bezos setzt auch zwei Jahrzehnte nach der Gründung auf Wachstum. Bezos steckt jeden zusätzlichen Dollar an Umsatz in weitere Logistikzentren, neue Technologien und Inhalte - auf Kosten des Profits. Die Folge: Das Gewinnvielfache liegt wie bei Twitter im dreistelligen Bereich. Lange wurde das toleriert, im aktuellen Umfeld macht das die Aktie aber anfällig für Korrekturen.
Hoch gestiegen und tief gefallen - wenn auch nicht so dramatisch wie Twitter oder Fireeye - sind beispielsweise auch die Papiere der Onlinevideothek Netflix und des Internetreiseportals Tripadvisor. Die Aktien sind teuer und zählen zu den riskanten Techinvestments. Beide Firmen haben aber bewiesen, dass ihr Geschäftsmodell funktioniert. Twitter- Chef Dick Costolo muss diesen Beweis erst noch liefern.
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