Videosprechstunden mit Medizinern haben sich in Zeiten der Corona-­Pandemie in Deutschland etwas mehr etabliert. In den USA ist medizinische Beratung über das Internet bereits deutlich weiter verbreitet. Dort hat die Mehrheit der Menschen keinen Hausarzt. Teladoc Health zählt hier zu den führenden Anbietern in der Telemedizin. Die Übernahme des Wettbewerbers Livongo Health versetzt das Unternehmen jetzt in die Lage, ähnlich wie Amazon im Onlinehandel, zum führenden Portal für digitale Beratung in Gesundheitsfragen aufzusteigen.

Insgesamt 18,5 Milliarden US-Dollar, kombiniert aus Aktien und Cash, bezahlt Teladoc für Livongo. Das entspricht knapp dem 50-Fachen des Umsatzes, den Livongo 2020 generieren wird. Ist die Übernahme bis Jahresende unter Dach und Fach, halten die Teladoc-Aktionäre am neuen Unternehmen rund 58 Prozent. Die Aktie reagierte zunächst mit Kursverlusten und fiel unter unseren Stoppkurs bei 165 Euro. Offenbar befürchteten Investoren, dass zum einen ihre Anteile verwässert würden und sich Teladoc zum anderen mit dem Zukauf verheben könnte. "Der Kaufpreis ist eine Hausnummer, keine Frage", sagt Hendrik Lofruthe, Fondsmanager bei Apo Asset Management. "Sieht man sich aber genauer an, wo die beiden Firmen bislang alleine ihren Fokus hatten und welche Synergien sich in Zukunft ergeben, könnte die neue Firma als Vorreiter einen bislang unerschlossenen Markt aufrollen."

Jede Menge Synergien


Teladoc bietet bei akuten gesundheitlichen Problemen ärztliche Beratung per Smartphone oder Videokonferenz an. Rund 50 000 medizinische Fachkräfte sind im firmeneigenen Netzwerk aktiv. Die Kunden müssen für jeden Termin Gebühren berappen. Zahlen müssen auch Versicherungen, die auf der Teladoc-Plattform ihre Dienste anbieten. Die Corona-Pandemie hat das Geschäft weiter beflügelt. Im zweiten Quartal kletterten die Einnahmen um 85 Prozent auf 241 Millionen US-Dollar.

Livongo ist unterdessen auf chronische Krankheiten wie Diabetes und Blut­hochdruck spezialisiert. Dabei stellt das Unternehmen Patienten vernetzte Blutzuckermessgeräte zur Verfügung. Die ­Gesundheitsdaten werden in der Cloud gesammelt und dann über Algorithmen ausgewertet, die von künstlicher Intelligenz unterstützt werden. Patienten bekommen daraufhin Hinweise für ihr Verhalten im täglichen Leben. Livongo erzielte zuletzt Bruttomargen von mehr als 75 Prozent und übertraf damit gar Teladoc mit seinen 64 Prozent. Das fusionierte Unternehmen wird nach den Konsensschätzungen der Analysten 2020 auf einen Jahresumsatz von rund 1,3 Milliarden Euro kommen, was einem satten Plus von 85 Prozent entspricht. Das Pro-forma-Ebitda soll bei

120 Millionen Euro liegen.

Katalysator Corona-Pandemie


Die Corona-Pandemie hat die Nachfrage nach medizinischer Versorgung über das Internet noch einmal beschleunigt. Für den Zeitraum von 2019 bis 2025, so berechnet eine Studie des Marktforschungsinstituts Frost & Sullivan, werden sich in den USA die Umsätze mit Telemedizin von 17,5 Milliarden auf 122,3 Milliarden US-Dollar mehr als versiebenfachen (Infografik rechts). Daraus ergibt sich ein jährliches Wachstum um 38,2 Prozent im Schnitt. In der Vor-Corona-Zeit hatten die IT-Experten einen Durchschnittswert von 28 Prozent errechnet. 88 Prozent der Erlöse stammen aus den USA. Weil sich dort die größte Wertschöpfung erzielen lässt, wird der Heimatmarkt beim Ausbau der digitalen Angebote in den nächsten Jahren absolute Priorität haben.

Fondsmanager Lofruthe ist optimistisch, dass Teladoc mit seinem nahtlos integrierten virtuellen Versorgungskanal zu der unangefochtenen Nummer 1 wird: "Die fusionierte Firma hat weitaus mehr Optionen, Patienten wie auch medizinische Spezialisten langfristig an sich zu binden. Je größer die Plattform, desto weniger Gesundheitsdienstleister können es sich leisten, auf diesem Portal nicht präsent zu sein." Das gelte auch für die Versicherer: "Die Anbieter haben ebenfalls verstanden, dass es zielführend im Sinne einer besseren und effizienteren Versorgung ist, einen Patientenpool an verschiedenen Stellen bedienen zu können."

In den vergangenen zwölf Monaten hat sich der Aktienkurs von Teladoc mehr als verdreifacht. Der Börsenwert entspricht dem 14-Fachen des für 2020 erwarteten Umsatzes für den neuen Teladoc-Konzern. Schafft das Unternehmen den Sprung zum globalen digitalen Medizinchampion, sollte der Börsenwert in den nächsten Jahren deutlich höher liegen.

Gut denkbar, dass sich IT-Giganten wie Alphabet, Apple oder Microsoft stärker im Gesundheitsmarkt engagieren. Weil die eigenen Milliardeninvestitionen bis dato nur von mäßigem Erfolg gekrönt waren, könnte die Akquisition eines Marktführers künftig die bessere Option sein. Dank der immensen Cashreserven lässt sich ein solcher Zukauf stemmen. Langfristig orientierte Anleger steigen jetzt bei Teladoc wieder ein.