Die Berichterstattung um Thyssenkrupp in den Medien hat derzeit gleichwohl einen anderen Kern. Alles dreht sich um den potenziell kurz bevorstehenden Tata-Deal, der am 23. und 24. September in einer Art Showdown vom Aufsichtsrat abgesegnet werden soll, aber von Großaktionär Cevian, der Thyssenkrupp-Stiftung und den Arbeitnehmervertretern durchaus noch gekippt werden kann. In diesem Fall wären die Tage von Vorstandschef Heinrich Hiesinger gezählt.

Die Alternative wird hinter vorgehaltener Hand in einer Abtrennung der Sparten für Aufzüge, Automobilkomponenten und Großanlagen etwa durch einen eigenständigen Börsengang gesehen. Gleichzeitig könnte der Stahlbereich in Form einer Deutschland AG mit der Georgsmarienhütte und Salzgitter zusammengebracht werden, was aber bei Salzgitter derzeit noch keinen Rückhalt findet.

Egal wie es kommt - Thyssenkrupp wird es in seiner jetzigen Form nicht mehr lange geben. Klar ist auch unter Analysten, dass die Einzelteile des Konzerns wohl wesentlich mehr wert sind als die gegenwärtige Marktkapitalisierung von 15,1 Milliarden Euro bei einem für das laufende Geschäftsjahr 2016/17 (per 30. September) erwarteten Umsatz von gut 41 Milliarden Euro. Das entspricht einem Kurs-Umsatz-Verhältnis von 0,36. Damit wird das DAX-Unternehmen wie ein reinrassiger Stahlkonzern bewertet, obwohl nur noch rund 20 Prozent des Umsatzes aus dem Stahlgeschäft stammen.

Analyst Björn Voss von Warburg Research sieht das Kursziel für die Aktie bei 32 Euro und hat bereits einen Konglomeratsabschlag von drei Euro eingerechnet. Niemand scheint aber so recht das Potenzial von Thyssenkrupp Elevator auf der Rechnung zu haben. Schließlich ist das Ganze zahlenmäßig noch schwer fassbar.

Revolution im Großstadtleben



Der Bereich Elevator Technology mit einem Umsatz um 7,7 Milliarden Euro und einer Ebit-Marge um die zwölf Prozent (geschätztes Ebit per 2016/17 um 900 bis 920 Millionen Euro) steht vor einer rasanten Zukunftsentwicklung. Es geht um den ersten seillosen Aufzug der Welt. Mit dem Aufzugssystem Multi, dem "Heiligen Gral der Aufzugbranche", beendet man die Monopolstellung des konventionellen Aufzugs - 160 Jahre nach seiner Erfindung. Als Technologiebasis gilt die in Deutschland erfundene Magnetschwebetechnik. Das Projekt Transrapid endete im finanziellen Desaster und wurde eingestellt. Die Technologie aber hat überlebt und wird den globalen Aufzugmarkt revolutionieren.

Die Vorteile des "Multis" sind ohnegleichen. In einem gewöhnlichen Hochhaus oder Wolkenkratzer beanspruchen konventionelle Aufzüge 40 bis 50 Prozent der insgesamt nutzbaren Fläche. Hier ist nur eine Kabine pro Schacht möglich. In der Folge steigt mit der Gebäudehöhe der Raumbedarf für herkömmliche Aufzüge beziehungsweise Aufzugschächte.

Das neue, mehrfach patentierte System von Thyssenkrupp fasst mehrere Kabinen in einer geringeren Schachtanzahl zusammen. Diese fahren in einer Dauerschleife in einem Schaft hinauf und im anderen hinunter. Somit bewegen sich die Kabinen auch horizontal. Auf diese Art und Weise verringert man den Platzbedarf des Aufzugs um bis zu 50 Prozent und erhöht in Wolkenkratzern oder Hochhäusern die nutzbare Fläche und damit den Objektwert um bis zu 25 Prozent. Das sind aber nicht die einzigen Vorteile.



Mit der neuen Technologie müssen Aufzugfahrgäste nie länger als 15 bis 30 Sekunden auf einen Aufzug warten. Da die Aufzüge auch seitwärtsfahren, müssen Architekten und Entwickler sich bei ihren Planungen nicht mehr um die Aufzugschachthöhe und vertikale Ausrichtung sorgen. Das System ermöglicht das Design in alle Richtungen. Auch verringert sich das Gewicht der Aufzüge um die Hälfte.

Die bisherige Aufzugtechnik gelangt bei 600 Metern Schachthöhe an ihre Grenzen, weil das Seil zu sehr schwingen und wegen seines Eigengewichts reißen würde. Die Magnetfeldtechnik kennt dagegen keine Limits nach oben und verbraucht noch weniger Energie, erläuterte der Vorstandsvorsitzende Andreas Schierenbeck in einem Interview der "Süddeutsche Zeitung".

Das Wachstumspotenzial in den nächsten zehn bis 20 Jahren ist gewaltig. "Multi" gilt in Branchenkreisen als ultimative Lösung für die Anforderungen der Urbanisierung. Städte expandieren, und Wohngebäude werden zunehmend in die Höhe gebaut, um neuen Wohnraum zu schaffen. 2016 waren weltweit 128 Hochhäuser im Bau, die höher sind als 200 Meter. Und 2017 kommen noch mal 150 hinzu, 2018 weitere 155 mit steigender Tendenz in den nächsten Jahren als Folge der Urbanisierung.

Die meisten Gebäude entstehen in -Asien. Bis 2020 soll die neue Aufzugtechnik zertifiziert sein. Der niederländische Projektentwickler OVG Real Estate kündigte an, er werde in seinem geplanten 142 Meter hohen East Side Tower in Berlin, der 2020 fertiggestellt sein soll, das Multi-System einbauen. Langfristig plant Thyssenkrupp laut Schierenbeck, entsprechende Lizenzen an die Konkurrenz zu vergeben. Schließlich ist es unmöglich, den gesamten Weltmarkt allein zu bedienen. Dann rollt der Rubel richtig.

Kone bekundet Interesse



Mit einem Umsatz von 8,8 Milliarden Euro rangiert der finnische Konkurrent Kone am Weltmarkt noch vor Thyssenkrupp Elevator. Börsenwert: gut 21 Milliarden Euro. Kone-Chef Henrik Ehrnrooth hat Interesse an einem Zusammenschluss und hält diesen ohne nennenswerte kartellrechtliche Auflagen für machbar. Nicht nur vor diesem Hintergrund ist die Sparte Elevator der mit Abstand spannendste und wertvollste Bereich des Konzerns.

Der Schweizer Rivale Schindler kommt auf einen Börsenwert von 19,5 Milliarden Euro bei etwa zehn Milliarden Euro Umsatz und ähnlichen Margen, sitzt aber noch auf rund 1,5 Milliarden Euro Nettoliquidität. Eine zweifache Umsatzbewertung für Thyssenkrupps Aufzugsparte ließe sich rechtfertigen. Dann läge der Wert bei gut 15 Milliarden Euro. Zur Erinnerung: Thyssenkrupp wird aktuell nur mit 15 Milliarden Euro bewertet.