boerse-online.de: Inwieweit wird durch diesen Vergleich im Telekom-Verfahren deutsche Rechtsgeschichte geschrieben?

Peter Gundermann: Das Kapitalanleger-Musterverfahren gegen die Deutsche Telekom wegen Wertpapierschäden im Zusammenhang mit dem dritten Börsengang hat seinen Ursprung in mehr als 16000 Klagen privater Anleger, die die vielbeworbene Aktie der Telekom gezeichnet hatten. Allein die hohe Anzahl an Klagen stellte die Justiz vor bisher kaum gekannte Herausforderungen. Nachdem die ersten Klagen bereits im April 2001 beim zuständigen Landgericht Frankfurt eingereicht wurden, dauerte es bis November 2004, bis die erste mündliche Verhandlung stattfand.

Der Gesetzgeber hat darauf reagiert, indem er das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz ("Lex Telekom") am 1. November 2005 in Kraft setzte. Was hat sich dadurch geändert?
Das Gesetz eröffnete erstmalig in Deutschland die Möglichkeit, verschiedene Rechtsfragen in einem Verfahren zu bündeln, um so die Justiz zu entlasten und rechtssuchenden Klägern den Weg zum Recht zu vereinfachen. Somit war das "Telekom-Musterverfahren" quasi der Prototyp für den kollektiven Rechtsschutz in Deutschland.


Wie ließen sich solche Verfahren künftig beschleunigen?
Das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) wurde im Jahre 2012 bereits durch den Gesetzgeber novelliert. Da zu diesem Zeitpunkt der erste Musterentscheid im Musterverfahren zum Dritten Börsengang schon erlassen war, musste dieses Verfahren aber nach altem Prozessrecht bis heute fortgeführt werden. Das "alte" Gesetz sah eine Vergleichsmöglichkeit auf Ebene des Musterverfahrens nicht vor, sodass nun alle Ausgangsverfahren zu vergleichen sind, um so dem Musterverfahren die Grundlagen zu entziehen.

Müssten solche Verfahren zum kollektiven Rechtsschutz nicht auf den neuesten Stand gebracht werden?
Ja, wir halten die Verfahrensarten zum kollektiven Rechtsschutz in Deutschland grundsätzlich für überdenkenswert, da auch die Anforderungen des europäischen Gesetzgebers aus unserer Sicht noch nicht erfüllt sind. Im Bereich des Kapitalanleger-Musterverfahrens wären beispielsweise die Regelungen zu Erweiterungsanträgen und zur Anmeldemöglichkeit novellierungsbedürftig. Auch fordern wir im KapMuG schon lange eine Art "Discovery-Verfahren" zur effektiven Informationsbeschaffung wie in den USA. Hier sehen wir echte Hemmnisse bei der effektiven Rechtsdurchsetzung.

Gab es irgendwann im Laufe des Prozesses ein offizielles Schuldeingeständnis der Telekom?
Nein, eine solche Erklärung hat es nicht gegeben. Es ist auch Grundlage des Verhandlungsergebnisses zum Vergleichsangebot, dass ein solches nicht erfolgt. Es ist auch nicht erforderlich.

Mit welcher Annahmequote unter den 16000 betroffenen Aktionären rechnen Sie beim Vergleich?
Wir rechnen mit einer nahezu hundertprozentigen Annahmequote, da die wirtschaftlichen Schäden der Anleger, mithin die Forderung aus den Klagen, vollständig erfüllt werden. Dazu kommt, dass die Telekom noch die weit überwiegenden Kosten der gerichtlichen Anspruchsverfolgung übernimmt und 70 Prozent der angefallen Prozesszinsen trägt. Der angestrebte wirtschaftliche Erfolg eines jeden Kläger tritt damit ein. Es bestehen also keine vernünftigen Gründe, das Vergleichsangebot abzulehnen. Wir empfehlen daher - wie der Senat des OLG Frankfurt in der gestrigen mündlichen Verhandlung - dringend die Annahme des Vergleichsangebotes.

Was passiert mit jenen Klägern, die nicht durch Ihre Kanzlei vertreten sind?
Die Deutsche Telekom hat zugesagt, allen Klägern diesen Vergleich anzubieten. Ziel ist es, dieses bis spätestens 30. Juni 2022 umzusetzen.

Ist das Telekom-Verfahren damit wirklich abgeschlossen, oder sind noch weitere offene Fragen und Ansprüche zu klären?
Mit Annahme des Vergleichs und nach Auszahlung des Vergleichsbetrages werden die sog. Ausgangsverfahren vor dem Landgericht durch Klagerücknahmen beendet. Dem Musterverfahren wird so die Grundlage entzogen, sodass dieses anschließend endet.

Die Fülle an Klagen in dem Verfahren war Ausgangspunkt für den Gesetzgeber, das Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz zu schaffen. Nach diesem Gesetz läuft auch ein Verfahren gegen Volkswagen im Dieselskandal. Könnte der Telekom-Vergleich auch Auswirkungen auf dieses Verfahren haben?
Ja, denn das Verfahren zeigt, dass es seinen Sinn und Zweck, nämlich die Klärung aller verallgemeinerungsfähigen Sach- und Rechtsfragen, erfüllt hat. Und es zeigt, dass es nach dieser Klärung die Lösung im Vergleichswege der naheliegende nächste Schritt ist.