Durch die Wahlschlappe für Erdogans islamisch-konservative AK-Partei in der Hauptstadt Ankara und der drohenden Niederlage in Istanbul sehen Experten das tief in der Rezession steckende Land vor einer ungewissen Zukunft und schließen ein Börsenbeben 2.0 nicht aus.

Der Verlust der beiden Großstädte wäre insbesondere für Erdogan eine Niederlage. Von Ankara aus regiert Erdogan die Türkei seit 2003 mit eiserner Hand. In Istanbul begann er in den 1990er Jahren als Bürgermeister seine politische Karriere. Der Ausgang der Wahl in der 15-Millionen-Metropole am Bosporus ist noch unsicher. Sowohl die AKP als auch die Oppositionspartei CHP reklamierten den Sieg für sich. Die AKP erhob den Vorwurf der Wahlmanipulation. In Ankara will sie das Ergebnis anfechten. "Der psychologische Faktor des Verlustes der Hauptstadt und des Verlustes einer der großen Städte in der Türkei könnte von den Wählern als Beginn des Niedergangs wahrgenommen werden", sagt der politische Analyst Murat Yetkin.

ZENTRALBANK HAT EIN GLAUBWÜRDIGKEITSPROBLEM


"Die Lira bleibt verwundbar", sagt Commerzbank-Stratege Tatha Ghose. Das Vertrauen der Anleger ist nach dem Einbruch der Lira um 30 Prozent im vergangenen Jahr stark angekratzt. Im Sommer 2018 hatte ein Streit zwischen den Regierungen in Ankara und Washington um die Inhaftierung eines US-Pastors in der Türkei die Krise mitausgelöst. Der Pastor wurde später freigelassen. Nach dem Ende von US-Sanktionen in Form von höheren Zöllen für bestimmte Waren kehrte im Herbst allmählich wieder Ruhe ein.

Im Frühling 2019 ist die Unsicherheit nun wieder an die Börsen zurückgekehrt. Investoren fürchten nach der Kritik Erdogans an der amerikanischen Israel-Politik einen erneuten diplomatischen Streit, der die Rezession der Türkei in diesem Jahr und sogar darüber hinaus vertiefen könnte. Über das Risiko weiterer wirtschaftlicher Sanktionen hinaus könnte ein Zusammenbruch der Beziehungen ausländische Investoren abschrecken und den westlichen Tourismus treffen. "Das ist eine noch schwerwiegendere Eskalation als im vorigen Jahr, denn da war es der Türkei mit der Freilassung des Pastors möglich, zu deeskalieren", sagt Sinan Ülgen, Gastdozent bei Carnegie Europe.

Erdogan lastete indes die frisch aufgeflammte Lira-Misere westlichen Banken und Spekulanten an. Börsianern zufolge hatten türkische Banken ausländischen Investoren in der Woche vor den Wahlen keine Lira mehr geliehen, um weitere Wetten auf einen Verfall der Währung zu erschweren.

Laut Ghose sind die im Zusammenhang mit den Lira-Verlusten genannten geschmolzenen Fremdwährungsreserven der türkischen Notenbank nicht das Problem, sondern das mangelnde Vertrauen in eine unabhängige Geldpolitik. "Lira-Schwäche haben wir auch noch gesehen, als die die Währungshüter über deutlich mehr Reserven verfügten", betont der Stratege. "Der Reserven-Bestand kann so hoch sein, wie er will: wenn die Geldpolitik der türkischen Zentralbank nicht über hinreichende Glaubwürdigkeit verfügt, ändert dass an den Ausschlägen der Lira-Wechselkurse kaum etwas." Erdogan aber reitet als erklärter Gegner von Zinsen weiter Attacken gegen die heimische Notenbank, von der er eine lockerere Geldpolitik einfordert.

"ERDOGAN IMPROVISIERT VON TAG ZU TAG"


Doch ein erneuter Vertrauensentzug ausländischer Investoren auf breiter Front würde die türkischen Unternehmen hart treffen. Sie stehen im Ausland mit fast 200 Milliarden US-Dollar in der Kreide. Sollte die Lira drastisch fallen, könnten die notleidenden Kredite in den Bilanzen der türkischen Geldhäuser weiter anschwellen. Gäbe es im Zuge dessen eine Insolvenzwelle, würde das die ohnehin schon bei mehr als dreizehn Prozent liegende Arbeitslosigkeit verstärken. Gleichzeitig sind die Preissprünge so gewaltig, dass sich viele Bürger Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten können. "Erdogan improvisiert von Tag zu Tag und hat keinen Spielplan, also könnten die Probleme in der Türkei eskalieren", sagt Nihat Bülent Gültekin, ein ehemaliger Gouverneur der türkischen Zentralbank.

rtr